Menschengerechtes Verkehrssystem heißt: Tempo 30 innerorts zum Standard machen

Von Michael Schwendinger (VCÖ - Mobilität mit Zukunft), Juli 2021

Im Jahr 1992 war die Stadt Graz mit der Umsetzung von flächendeckendem Tempo 30 mit Ausnahme der Hauptstraßen internationale Vorreiterin. Zahlreiche Städte in Österreich, etwa Dornbirn und Leoben sowie international Grenoble, Helsinki, Lille, Zürich oder Barcelona sind dem Beispiel gefolgt. Zuletzt setzte Brüssel zu Beginn des Jahres 2021 Tempo 30 im verbauten Gebiet als Standard, Tempo 50 wurde zur beschilderten Ausnahme. Im Jahr 2020 wurde in den Niederlanden im Parlament beschlossen, flächendeckend Tempo 30 einführen zu wollen. Seit 11. Mai 2021 ist dies in Spanien als erstem EU-Staat Realität, landesweit gilt Tempo 30 im Ortsgebiet auf Straßen mit einer Kfz-Fahrbahn je Richtung, Tempo 20 auf Straßen mit nur einer Fahrbahn. In Österreich wird derzeit an einer Reform der Straßenverkehrsordnung (StVO) gearbeitet. Es lässt sich mit Hinblick auf die lokale Lebensqualität sowie Verkehrssicherheit kaum begründen, warum Österreich dem spanischen Beispiel nicht folgen sollte.

Tempo 30 rettet Leben und verbessert Lebensqualität

344 Menschen wurden im Jahr 2020 in Österreich im Verkehr getötet, jede dritte Person starb wegen überhöhter Geschwindigkeit. Jeder vierte tödliche Verkehrsunfall passierte im Ortsgebiet. Die größte Opfergruppe waren Fußgängerinnen und Fußgänger. 47 Prozent der Menschen, die im Ortsgebiet im Straßenverkehr ums Leben kamen, waren älter als 70 Jahre. Das Tötungsrisiko für Gehende bei einem Zusammenstoß mit einem Auto bei Tempo 50 ist etwa doppelt so hoch wie bei Tempo 40 und sogar fünf Mal so hoch wie bei Tempo 30. Kurz gesagt: Tempo 30 rettet Leben. Und Tempo 30 verbessert auch die lokale Lebensqualität. Ein guter Indikator für die Aufenthaltsqualität des öffentlichen Raums sind Kinder. Eine Untersuchung in Deutschland zeigt etwa, dass Kinder in verkehrsberuhigten Tempo 30-Zonen durchschnittlich mehr als doppelt so lange ohne elterliche Aufsicht im Wohnumfeld draußen spielen, als in einer Straße mit Durchzugsverkehr und Tempo 50. Zudem wäre Tempo 30 eine wichtige Maßnahme zur Förderung der aktiven Mobilität von Kindern, die seit Jahrzehnten rückläufig ist und von Eltern oft so begründet wird: zu gefährlich.

Vom Beispiel Graz lernen

Im September 1992 wurde in Graz flächendeckend Tempo 30 eingeführt, ausgenommen waren Hauptstraßen mit Tempo 50. Eine begleitende Untersuchung zeigte, dass Verkehrsunfälle im ersten Jahr nach der Umsetzung im gesamten Stadtgebiet um 18 Prozent zurückgingen. Die durchschnittliche Kfz-Geschwindigkeit reduzierte sich von vorher 37,1 km/h nur minimal um 0,5 km/h. Ebenso interessant: die Akzeptanz der Regelung stieg von 44 Prozent kurz vor der Umsetzung, auf 60 Prozent im Monat nach der Einführung und dann auf 77 Prozent zwei Jahre später. Bei den Pkw-Lenkenden lag die Zustimmung vorab bei lediglich 29 Prozent, doch zwei Jahre später befürwortete mit 68 Prozent ebenfalls eine große Mehrheit die Regelung.[i]

Derzeit steht die StVO Kopf

In Österreich ist Tempo 30 im Ortsgebiet derzeit die zu begründende Ausnahme. Gemäß § 20/2a StVO kann per behördlicher Verordnung für ein gesamtes Ortsgebiet eine reduzierte Geschwindigkeit festgelegt werden, sofern dies der Verkehrssicherheit dient oder Belastungen durch Lärm, Geruch sowie Schadstoffe reduziert. Alle diese Punkte treffen in der Regel auf Tempo 30 statt Tempo 50 im Ortsgebiet zu – das Gesetz steht also Kopf. Derzeit muss die Herbeiführung einer erwiesenermaßen für Lebensqualität und Verkehrssicherheit vorteilhaften Situation per behördlicher Verordnung genehmigt werden. Diese Regelung stammt aus einer Zeit, in der ein Buchtitel des deutschen Stadtplaners Hans Bernhard Reichow zum geflügelten Wort wurde: „Die autogerechte Stadt“. Die Zeiten haben sich geändert und sofern das Schlagwort eines „menschengerechten“ Verkehrssystems ernst genommen wird, sollte das Gegenteil der Fall sein. Höhere Kfz-Geschwindigkeit sollte nur dort behördlich verordnet werden können, wo Risiken und Nebenwirkungen begrenzt sind.

Gibt es Gründe für Tempo 50?

Angesichts der triftigen, ja lebensrettenden Gründe für Tempo 30, kann auch die umgekehrte Frage gestellt werden: Was spricht eigentlich für Tempo 50 als Standardgeschwindigkeit im Ortsgebiet? Das Hauptargument ist häufig Geschwindigkeit und Zeitgewinn. Allerdings fällt dieses Argument schnell in sich zusammen. Einerseits, weil die reale Differenz der Durchschnittsgeschwindigkeit minimal ist – siehe Beispiel Graz. Andererseits, weil auf wichtigen Verkehrsadern weiterhin Tempo 50 verordnet werden kann. Oft wird auch ein Ausbremsen des Öffentlichen Verkehrs befürchtet. Allerdings gibt es erstens zahlreiche Möglichkeiten und bewährte Maßnahmen zur Bevorrangung des Öffentlichen Verkehrs (etwa Vorrangschaltung bei Ampeln, Mittelinseln bei Haltestellen, eigene Busspuren etc.) und zweitens attraktiviert Tempo 30 den öffentlichen Raum, verbessert die Aufenthaltsqualität, motiviert Menschen zu Fuß zu gehen und damit auch häufiger öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Auch die Praxis zeigt: Bei gegenseitigem Kooperationswillen lassen sich Lösungen finden.

StVO-Reform als Chance nutzen

In Österreich wird derzeit an einer Reform der StVO gearbeitet. Diese Chance sollte genutzt werden, um den gesetzlichen Rahmen auch in Österreich vom Kopf auf die Beine zu stellen. Hohe Lebensqualität, Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum und Verkehrssicherheit müssen Standard werden, Ausnahmen sind zu begründen. Alles andere ist schwer zu argumentieren und jedenfalls erklärungsbedürftig.

 

Quellen:
[i] Schützenhöfer A.: Das Grazer Modell. In: Tempo 30 – Lebensraum Straße. Wien: Kuratorium für Verkehrssicherheit, 1999. Seite 13-23. URL https://trid.trb.org/view/960039 - Stand: 29.6.2021

Grafik-Quelle: Höfflin P.: Die Qualitäten urbaner Räume und deren Bedeutung für die Entwicklung von Kindern. In: Forum Wohnen und Stadtentwicklung, Child in the City, 1/2019

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Foto: Spencer Imbrock, unsplash