Fachleute über Mobilitätswende und Vorbilder

Marcel Hänggi

Historiker, Wissenschaftsjournalist, Autor des Buches „Fortschrittsgeschichten. Für einen guten Umgang mit Technik“

„Was ist der größte Nachteil von Elektro-Autos? Die geringe Energie-dichte von Batterien, würden Autobauer sagen. Aber um das Jahr 1900 waren die meisten Autos elektrisch – mit bleischweren Batterien. Sie waren zuverlässiger, leichter zu bedienen, leiser und sie stanken nicht. Das Auto als Gebrauchsgegenstand betrachtet, hatte der Verbrennungsmotor bloß einen Vorteil: den Preis. Es wäre damals niemandem in den Sinn gekommen, 150-PS-Karren mit 1.000 Kilometer Reichweite zu bauen. Dazu war die Eisenbahn da. Aber Autos waren noch nie in erster Linie Gebrauchsgegenstände. Der Verbrennungsmotor setzte sich unter anderem durch, weil er als „sportlicher“ galt. Weil er laut war, weil er stank. Und weil Verbrennungsmotoren sehr stark sein können, wurden sie immer stärker gebaut – und die Straßen für sie.

Mit dem Elektro-Auto hätten wir heute ganz andere Infrastrukturen, Mobilitätsmuster und -Mentalitäten. Und es käme noch heute niemandem in den Sinn, sein Kind mit 150 Pferden in den Kindergarten fahren zu wollen. Die Schwierigkeit, Elektro-Autos zu bauen, ist keine technische, sondern eine kulturelle. Wie fast alle Verkehrsprobleme.“

Christian Natter

Bürgermeister in Wolfurt/Vorarlberg

VCÖ: Woher haben Sie den Mut für so gravierende Veränderungen genommen, wie sie das neue Verkehrskonzept für Wolfurt mit sich bringt?

Natter: Wir sind Klimabündnisgemeinde und e5-Gemeinde, da ist Mobilität ein wichtiges Thema. Klar braucht es für ein derartiges Projekt Mut und Stehvermögen. -Voraussetzung für das Gelingen war, dass wir stets die Bevölkerung und politische Organe mit einbezogen haben – und keine Diskussion gescheut haben.

VCÖ: Ließe sich der Wolfurter Weg auf andere Gemeinden übertragen?

Natter: Nicht auf alle, aber sicher auf viele. Wir erhalten immer wieder Anfragen anderer Gemeinden, die das Modell zumindest in einzelnen Quartieren übernehmen möchten. Werden die Geschwindigkeitsbeschränkungen einmal ohne Emotionen betrachtet – der befürchtete Zeitverlust ist ja kaum messbar. Da muss es einfach nur „klick“ im Kopf machen. 

Evelinde Grassegger

Leiterin der Abteilung Mobilität und Verkehrs-technologien im Bundes-ministerium für Verkehr, Innovation und Technologie

VCÖ: Der VCÖ-Mobilitätspreis zeichnet vorbildliche Lösungen aus. Sie setzen davor an und fördern die Entwicklung solcher Lösungen – warum ist das notwendig?

Grassegger: Ich freue mich, dass viele unserer Forschungsprojekte eine Auszeichnung beim VCÖ-Mobi-litätspreis erhalten haben. Dies zeigt die Bedeutung von Forschung und technologischer Entwicklung für die Gestaltung eines zukunftsfähigen Mobilitätssystems. Das Verkehrs- und Innovationsminis-terium hat eine lange Tradition missionsorientierter FTI-Programme im Bereich Mobilität. Dieser Bereich ist in hohem Maße bestimmt durch gesellschaftliche Prozesse, die Entwicklung neuer sozialer Bedürfnisse und Wertvorstellungen, durch raschen technologischen Wandel und durch das Erfordernis der Kooperation unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure der Gesellschaft. Diese Aufgaben kann der private Sektor allein nicht lösen. Die Forschungserfordernisse und Entwicklungsrisiken ebenso wie die Notwendigkeit strategischer Vorgaben der Verkehrspolitik bedürfen deshalb staatlicher Unterstützung, sowohl finanziell als auch in der Vernetzung. Das bmvit investiert dafür rund 20 Millionen Euro jährlich. Innovative Verkehrspolitik heißt jedoch auch, Schlüssel-industrien in Österreich zu stärken und wettbewerbsfähiger zu machen. 

VCÖ: Ob Eisenbahn, Pharmazie, erneuerbare Energien oder Internet – die Ökonomin Mariana Mazzucato legt dar: Ohne staatlich geförderte Grundlagenforschung und Investitionen hätte es viele wirtschaftliche Entwicklungen nicht gegeben. Was kann der Staat, was private Unternehmen nicht können?

Grassegger: Die immer komplexer werdenden gesellschaftlichen Herausforderungen im Verkehr erfordern zunehmend neue, gesamtheitliche Innovationsansätze, um strukturelle Änderungen für ein zukunftsfähiges Mobilitätssystem zu erreichen. Neben technologischen sind verstärkt auch organisatorische und soziale Innovationen notwendig, die eine interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Akteurinnen und Akteure erfordern. Mit dem FTI-Programm „Mobilität der Zukunft“ schreiben wir gezielt solche systemischen Lösungsansätze aus und führen dafür neue Instrumente wie Open Innovation, living lab, urbane Mobilitätslabore ein. Damit können bisher nicht berücksichtigte Akteurinnen und Akteure involviert und neue Bedürfnislagen aufgegriffen werden. 

Gerald Hüther

Professor für Neurobiologie an der Universität Göttingen,  Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung,
www.akademiefuerpotentialentfaltung.org

VCÖ: 25 Jahre VCÖ-Mobilitätspreis – was braucht es, dass ausgezeichnete Projekte Vorbildwirkung entfalten?

Hüther: Sehr wirkungsvoll ist es, wenn das Tun im Mittelpunkt steht und der Preis Nebenprodukt ist. Wenn also nach Beispielen gesucht wird, wo bereits Vorbildhaftes getan und dieses Tun ausgezeichnet wurde. Mit Hilfe dieser Auszeichnung wird eine gelungene Lösung so in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt, dass sie für andere sichtbar und begreifbar wird.

VCÖ: Wie können andere animiert werden, ausgezeichnete Good-Practice-Beispiele nachzuahmen?

Hüther: Wie etwas gehen könnte, lernen wir nicht an Schulen, nicht an Universitäten – das kann nur im praktischen Leben gelernt werden, da, wo es wirklich auch sichtbar und umgesetzt ist. Deshalb zieht das gelungene Beispiel, wenn es auch vorgezeigt werden kann, andere an. Aus einem solchen „Leuchtturm“ entsteht dann, was Skalierung genannt wird: Es geht immer mehr in die Breite, immer mehr Personen schauen sich das an und -setzen es dann in ihrem Lebensbereich mit ihren Möglichkeiten um. 

VCÖ: Worauf ist besonders zu achten, damit Beispiele als Leuchtturm wahrgenommen werden?

Hüther: Es kommt weniger darauf an, perfekte Lösungen auszuzeichnen, sondern attraktive, die die Menschen anziehen und die nötige Leuchtkraft besitzen. Die Preisverleihung sollte keine Einmalaktion sein. Wichtig wäre, die Aufmerksamkeit über längere Zeit zu halten. Etwa indem dem Projekt, dem der Preis verliehen wurde, die Möglichkeit geboten wird, sich selbst weiter vorzustellen. Es könnte beispielsweise eine Werbeagentur gewonnen werden, eine Patenschaft für dieses ausgezeichnete Projekt zu übernehmen und dafür PR zu machen.

Susanne Giesecke

AIT Austrian Institut of Technologie, Leiterin Foresight-Abteilung, www.ait.ac.at

„Mittelfristig haben wir die Herausforderung, Mobilität in Stadt und Land radikal neu zu denken, wenn wir unsere eigene Gesundheit und die unseres Planeten schützen wollen. Gemessen an den Empfehlungen der WHO, bewegen sich etwa 30 Prozent aller Menschen in Europa nicht ausreichend und haben ein erhöhtes Risi-ko, an sogenannten Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Hypertonie, Krebs und sogar Depressionen zu erkranken sowie unter der Beeinträchtigung des Bewegungsapparates zu leiden. Lungenkrankheiten und andere Beeinträchtigungen der Atemwege rühren nicht zuletzt auch von der teilweise schlechten Luftqualität in unseren Städten, die die Abgase von Autos und Lkw mitverursachen. An die Stadt- und Raumplanung ergeht die Forderung, unsere Lebensräume so zu gestalten, dass wir uns in Zukunft besser zu Fuß, per Rad und mit den öffentlichen Verkehrsmitteln versorgen können, auch wenn wir alt und bewegungseingeschränkt sind oder am Land wohnen. Diese Herausforderungen dürfen wir nicht alleine als technisch lösbare verstehen, sondern nur ganzheitliche Ansätze, die unseren Lebensstil und unser Mobilitätsverhalten von Grund auf neu denken, können auch langfristige nachhaltige Perspektiven bieten. Initiativen wie der VCÖ-Mobilitätspreis helfen, gemeinsam über zukünftige Entwürfe nachzudenken, und regen die öffentliche Debatte an. Nur durch einen gesellschaftlichen Diskurs, der alle Positionen hörbar macht, können wir unsere Zukunft als Miteinander gestalten.“

Rita Trattnigg

Institut für kulturellen Wandel, http://kultureller-wandel.at

„Die Bürgerinnen und Bürger zu beteiligen, ist ein Schlüssel für einen umfassenden kulturellen Wandel – insbesondere für eine andere Mobilitätskultur. In Salzburg und Leipzig durchgeführte „Bürger-Räte“ mit nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Personen zeigten eine klare Tendenz: In beiden Fällen sprachen sich die Menschen für einen Vorrang des Öffentlichen Verkehrs, seine starke Attraktivierung und den Ausbau seiner Infrastruktur aus. Dem Killer-argument des fehlenden Geldes setzten die beteiligten Menschen die Notwendigkeit einer Umverteilung von öffentlichen Geldern entgegen und forderten mehr Mitsprache bei der Budgetverteilung.

Politik und Fach-Community waren beeindruckt von der hohen Qualität der Lösungsansätze: „Ich nehme die Ergebnisse des Bürger-Rates als Rückendeckung für eine mutigere Mobilitätspolitik“, so der deutsche Staatssekretär für Umwelt bei der öffentlichen Ergebnis-Präsentation in Leipzig. Meine langjährige Arbeitserfahrung zeigt, dass es innovative Beteiligungsformate braucht, um die Innovationskraft der Bevölkerung optimal in zukunftsfähige politische Lösungen einfließen zu lassen.“

Susanne Dobner

wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZSI – Zentrum für -Soziale Innovation in Wien; forscht im Bereich Inklusion, Mobilität und Stadtentwicklung, www.zsi.at

„Trotz stetig neuer technischer Innovationen, wie etwa Elektro-Autos, verursacht der Transport immer noch zirka ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen. Es besteht dringender Handlungsbedarf – dabei bringt die Entwicklung neuer technischer Innovationen allein keinen Wandel im gesellschaftlichen Bewusstsein. Dazu braucht es Innova-tionen, die gesellschaftlich angenommen werden und zu einer breiten gesellschaftlichen Bewusstseinsänderung in Bezug auf Mobilitätsverhalten führen; kurzum – soziale Innovationen. Viele ausgezeichnete Projekte des VCÖ-Mobilitätspreises sind hervorragende Beispiele für soziale Innovationen: So im Jahr 2015 etwa die Projekte „Frauen in Fahrt“ der Radlobby und „Öffi School“ des Verkehrsverbunds Tirol. Sie unterstreichen die Wichtigkeit, verschiedene Mobilitätsverhalten schon beim Entwickeln von neuen Mobilitätskonzepten sowie neuer Transportmittel mitzudenken. Mobilitätsverhalten stehen im engen Zusammenhang etwa mit Alter, Geschlecht, sozialer Herkunft und können nicht durch technische Innovationen ohne Berücksichtigung dieser sozialen Komponenten verändert werden. Um neue Mobilitätskonzepte bestmöglich umzusetzen und in der Gesellschaft verankern zu können, ist es wichtig, Nutzerinnen und Nutzer sowohl in die Entwicklungs-, als auch in die Testphasen einzubeziehen und mit ihnen verschiedene Optionen zur Befriedigung ihrer Mobilitätsbedürfnisse zu erarbeiten.“

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