Gesunde Straßen für die Menschen

Brüssel setzt auf Tempo 30 und lebenswerten öffentlichen Raum: Das geringere Tempo wird begleitet von einer neuen und vielfältigeren Gestaltung und Nutzung der öffentlichen Räume in der Stadt, als sicherer Freiraum für Menschen aller Altersgruppen.

Gesunde Straßen sind möglich, wenn bei der Gestaltung die Bedürfnisse der Menschen im Mittelpunkt stehen. In London wurde das Prinzip der Healthy Streets ein Element der Planung, aber auch viele andere Städte setzen wichtige Maßnahmen.

Von Bernhard Hachleitner

Rot, gelb und  grün – in drei Farben leuchten die Londoner Straßen auf der interaktiven Karte von Healthy Streets. Die Farben zeigen auf den ersten Blick die Qualität dieser Straßen – nicht als Verkehrswege, sondern als Lebensraum. „Healthy Streets ist ein Rahmen, um die Aufmerksamkeit der Menschen auf das zu lenken, was wirklich zählt – die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse“, erläutert Lucy Saunders das von ihr entwickelte Konzept. Es geht um Straßen, in denen sich Menschen sicher fühlen, sich gerne aufhalten und entspannen können. Dann sind sie auch gerne zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs. Manchmal hilft es schon, einen Bereich mittels Pflanzenkisten und Pollern für den Autoverkehr zu sperren, Bänke aufzustellen, ein paar Bäume zu pflanzen, und das Queren der Straße zu erleichtern, wie es etwa in der Dalwood Street in London gemacht wurde. Auf dem Healthy Streets-Index hat sich die Straße auf einer Skala von 0 bis 100 dadurch deutlich verbessert. Gerade diese unauffälligen, manchmal etwas trostlosen Straßen, in denen die meisten Menschen leben, sind Saunders wichtig: „Es geht nicht darum, einzelne Straßen im Stadtzentrum besonders schön zu machen. Es geht darum, jene Straßen, für die sich niemand interessiert, angemessen für die Menschen zu gestalten.“ Als Leitlinie für interessierte Stadtverwaltungen dient der von Healthy Streets entwickelte Design Guide.

Die am wenigsten gesunden sollen am meisten profitieren

In London wird das Prinzip in großem Maßstab angewendet. Nach seiner Wahl zum Londoner Bürgermeister im Jahr 2016 machte Sadiq Khan die Grundsätze der Healthy Streets zu einem zentralen Element der Verkehrs- und Stadtplanung. In den folgenden Jahren arbeitete Lucy Saunders für die Londoner Stadtverwaltung und den Verkehrsbetrieb „Transport for London“ daran Healthy Streets in der Praxis umzusetzen. Sie schulte hunderte Personen für die Mitarbeit und entwickelte Tools, um das Design von Straßen zu evaluieren und Verbesserungen zu erarbeiten. Bewegungsaktive Alltagsmobilität und die Veränderung des Mobilitätsverhaltens hin zu Öffentlichem Verkehr, Gehen und Radfahren wurden als zentrale Indikatoren einbezogen. Mit einem Monitoringsystem wurde jährlich an 1.500 Standorten die Entwicklung anhand des Healthy Streets-Index auf einer Skala von 0 bis 100 überprüft. „Der Healthy Streets-Index zeigt die gegenwärtigen Ungerechtigkeiten auf und hilft der Politik und Fachleuten, die Ressourcen auf jene Veränderungen zu konzentrieren, von denen die am wenigsten gesunden Straßen am meisten profitieren“, so Saunders. Sie ist übrigens nicht nur in London aktiv, sie präsentiert ihre Überlegungen anschaulich bei Vorträgen rund um den Globus, zuletzt auch in Wien beim Radgipfel 2022. Bei dieser Gelegenheit hat sie für ein paar Wiener Straßen den Design Check gemacht. Ihr Resümee: Die Situation ist besser als in London, aber: „Die Autos fahren viel zu schnell und es gibt viel zu viele davon“. Als eine der ersten Maßnahmen würde sie deshalb die Geschwindigkeit des Kfz-Verkehrs reduzieren – mit Tempo 30 als Maximum.

Tempo 30 hilft

Tatsächlich setzen immer mehr Städte auf Tempo 30 als Regel und 50 als Ausnahme. Beispiele sind Brüssel, Paris, Grenoble, Helsinki, Oslo oder Zürich. Graz feierte im September 2022 sogar schon 30 Jahre Tempo 30.  Wales geht einen Schritt weiter und schreibt im Ortsgebiet landesweit Tempo 30 (20 Meilen pro Stunde) vor. Damit können, wie eine Studie von Public Health Wales zeigt, pro Jahr sechs bis zehn Todesfälle und 1.200 bis 2.000 Verletzungen vermieden werden. Das ist ein Rückgang von bis zu 40 Prozent. Diese stark reduzierte Verletzungsgefahr durch Autos ist nicht der einzige Grund, warum immer mehr Städte auf Tempo 30 setzen. Es reduziert die Luftschadstoffe, der Stickoxid-Ausstoß sinkt einer Grazer Untersuchung zufolge um bis zu 32 Prozent. Die positiven Auswirkungen von Tempo 30 gehen aber weit darüber hinaus. Die Aufenthaltsqualität im öffentilchen Raum wird verbessert, ebenso die Bedingungen für bewegungsaktive Mobilität wie Radfahren und Gehen. Und das ist wichtig, denn Bewegungsmangel verursacht viele gesundheitliche Probleme. „Zu den möglichen Folgen mangelnder körperlicher Aktivität zählen beispielsweise chronische Krankheiten, eingeschränkte Mobilität aber auch verringerte Belastbarkeit, die mit Einbußen in der Leistungsfähigkeit beispielsweise am Arbeitsplatz einhergehen, und letztlich auch der vorzeitige Tod“, erläutert Susanne Mayer, assoziierte Professorin an der Abteilung für Gesundheitsökonomie am Zentrum für Public Health, Medizinische Universität Wien und Co-Autorin der Studie „Bewegungsverhalten, Kosten mangelnder körperlicher Aktivität und Bewegungsförderung in Österreich“.

Bäume statt Pkw-Parkplätze

Häufiger noch als Tempo 30 gehört mittlerweile die Parkraumbewirtschaftung in vielen Städten zum Standard. Der kurz- und mittelfristig dadurch gewonnene Platz sollte genützt werden, um die Straßen lebenswerter und gesünder zu machen, etwa durch das Pflanzen von Bäumen. Diese spenden nicht nur Schatten und verbessern das Mikroklima, sie können auch die seelische Gesundheit der dort lebenden Menschen stärken. Laut einer in Leipzig durchgeführten und in der Fachzeitschrift „Scientific Reports“ erschienenen Studie geht eine höhere Anzahl von Bäumen in der unmittelbaren Wohnumgebung mit einer geringeren Zahl von Antidepressiva-Verschreibungen einher. Besonders deutlich war der Zusammenhang bei sozial benachteiligten Gruppen. Bäume machen Straßen also in einem doppelten Sinn grüner: im wörtlichen Sinn und auf dem Healthy Streets-Index.

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