Gloria Benedikt - direkt gefragt

Die Kunst hilft wissenschaftliche Erkenntnisse zu verstehen

Gloria Benedikt ist Absolventin der Ballettakademie der Wiener Staatsoper und der Harvard Universität. Sie hat das Kunst & Wissenschaftsprojekt am IIASA geleitet und ist Visiting Fellow am Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM).

Das VCÖ-Magazin sprach mit Gloria Bendedikt darüber, warum es wichtig ist, dass die Themen der Wissenschaft in der darstellenden Kunst Platz finden und wie die Zusammenarbeit von Kunst und Wissenschaft den Wandel zur Nachhaltigkeitstransformation unterstützen kann und wir dazu technische Lösungen und einen kulturellen Wandel brauchen.

VCÖ-Magazin: Wie kam es zu Ihren Kunst-Projekten im Rahmen einer Wissenschaftsinstitution wie des Internationalen Instituts für Angewandte Systemanalyse IIASA?

Gloria Benedikt: Von 2008 bis 2013 habe ich im Theater gearbeitet und gleichzeitig studiert. An der Harvard Universität diskutierten wir Klimawandel, die wachsende Ungleichheit, Ressourcengerechtigkeit, Frauenrechte in Afghanistan etc. Dann ging ich ins Theater und dort wurde die neueste Besetzung besprochen. Also zum Beispiel: wer tanzt die Schneekönigin, oder wer bekommt ein Solo. Ich habe mir gedacht: das ist doch absurd! Warum können wir uns im Theater nicht mit den brennenden Themen unserer Zeit auseinandersetzen? Warum müssen wir immer wieder alte Märchen erzählen? In der Darstellenden Kunst war kein Platz für die Themen der Wissenschaft, weil sie sich - wenn nicht gerade Klassiker gespielt werden - vorzugsweise mit politischen oder historischen Fragen auseinandersetzt. Für den damaligen Direktor des IIASA, Pavel Kabat, ergab mein Ansatz aber Sinn. Seit Jahrzehnten hatten Wissenschaftler auf den Klimawandel und das Artensterben hingewiesen, aber in der Gesellschaft war das Verständnis dafür immer noch nicht angekommen. 2015 beauftragte er mich herauszufinden, wie die Zusammenarbeit von Kunst und Wissenschaft den kulturellen Wandel zur Nachhaltigkeitstransformation unterstützen kann.

VCÖ-Magazin: Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse aus dieser Auseinandersetzung und Zusammenarbeit mit der Naturwissenschaft?

Gloria Benedikt: Wissen ist nicht gleich Verständnis, aber Verständnis ist die Voraussetzung zum Handeln. Das ist, sehr vereinfacht zusammengefasst, das Dilemma der letzten Jahrzehnte. Die traditionelle Wissenschaftskommunikation ist hier an ihre Grenzen gestoßen.

Um die Nachhaltigkeitstransformation zu bewältigen, brauchen wir technische Lösungen und einen kulturellen Wandel. Ich illustriere es mit einem Beispiel aus dem Verkehrsbereich. Eine technische Lösung ist Autos herzustellen, die mit erneuerbaren Energien betrieben werden. Ein kultureller Wandel bedeutet aber, dass der Öffentliche Verkehr so ausgebaut wird, dass das Auto nicht mehr die Hauptrolle spielt, oder dass das europäische Zugnetz so gut ausgebaut wird, dass wir innerhalb von Europa keine Flugzeuge mehr brauchen.

Bei Betrachtung der Entwicklung des kulturellen Wandels in der Vergangenheit wird klar, dass Geschichten und das gemeinsame Erleben eine tragende Rolle gespielt haben. Auch jetzt gäbe es eine Geschichte zu erzählen, eine sehr gute sogar. Stellen Sie sich vor: Wir schreiben das Jahr 2070. Wie würden wir auf  die vergangenen 200 Jahre zurückblicken?

Die Industrielle Revolution hat viele Fortschritte gebracht. Leider hat dieser Fortschritt auch dazu geführt, unsere Lebensgrundlage, unseren Planeten zu zerstören. Die Menschen haben geglaubt, die Ressourcen seien unbegrenzt. Das hat sich als falsch herausgestellt. Aber die Menschen können auch sehr gut Probleme lösen und haben so um 2020 begriffen, es braucht eine Nachhaltigkeitstransformation. Sie haben gelernt, ihre Errungenschaften zu erhalten, ohne dabei die Lebensgrundlage der nächsten Generationen zu zerstören. Dieses Meta-Narrativ müsste in viele kleinere, konkrete Geschichten zergliedert und von Künstlerinnen und Künstlern auf der ganzen Welt erzählt werden.

VCÖ-Magazin: Hilft die Auseinandersetzung mit der Kreativität der Kunst auch Wissenschaft, Forschung und Technologie kreative Lösungen, neue Denkweisen und Haltungen zu generieren?

Gloria Benedikt: Das Ziel meiner Arbeit ist es, wissenschaftliche Erkenntnisse in gesellschaftliches Verständnis zu übersetzen. Aber natürlich kommt es dabei auch zu Spill-over-Effekten. Der künstlerische Prozess ermöglicht  Wissenschafterinnen und Wissenschaftern zum Beispiel ihre eigene Arbeit aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Das ist wiederum beim Arbeiten an komplexen Problemen, wie zum Beispiel der globalen Kooperation oder bei der Kooperation mit zukünftigen Generationen, besonders wichtig.

VCÖ-Magazin: Wandelt sich die Rolle der Kunst in Zeiten der größten ökologischen Krise der Menschheit?

Gloria Benedikt: Immer mehr Kunstschaffende wollen an diesen Themen arbeiten, aber das System hat sich bisher kaum verändert. Weder von Seiten der Kulturpolitik noch von Seiten der Institutionen. Auf den Spielplänen der etablierten Kunstinstitutionen stehen immer noch hauptsächlich Klassiker und wenn es soziale Themen sind, dann geht es um Themen wie zum Beispiel die Flüchtlingsproblematik oder Rassismus. Insbesondere in der darstellenden Kunst sind naturwissenschaftliche Themen nicht am Radar. Es fehlt noch das Verständnis, dass es sich bei diesen Themen, wenn sie übersetzt werden, auch um soziale Fragen handelt, etwa bei Krieg und Frieden, Migration, Gerechtigkeit, Gesundheit und philosophischen Themen: Was ist unsere Verantwortung gegenüber der Gesellschaft? Wie ist sie mit meiner Freiheit als Individuum vereinbar, und wie können wir unsere Beziehung zu unserem Planeten verbessern?

VCÖ-Magazin: Ihr Mittel ist der Tanz – was kann die Flüchtigkeit der getanzten Kunst den Fakten und Zahlen der Wissenschaft hinzufügen?

Gloria Benedikt: Meine Grundausbildung war der klassische Tanz. Alleine kann er hier wenig beitragen.  Das gilt eigentlich für jede Kunstform. Deshalb verbinde ich Elemente aller Künste, also Musik und Tanz, Text und Bild. Zur künstlerischen Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Themen braucht es ein ‘Gesamtwerk’.

VCÖ-Magazin: Wie schätzen Sie die Rolle von Frauen in diesem Prozess der Öffnung der Wissenschaft hin zur Kunst ein?

Gloria Benedikt: Ich kann die Frage nicht für die gesamte Wissenschaft beantworten. Die Klimawissenschaft ist nach wie vor eine eher männlich geprägte Domäne. Die Klimabewegung hingegen wird großteils von Frauen angeführt. In der Kunst gibt es da schon eine gesunde Balance. Damit meine ich, dass die Gender-Balance eigentlich nie ein Thema war. Diese hat sich ohne jegliche Anstrengung ergeben. Mir ist allerdings aufgefallen, dass sich Frauen bei interdisziplinären Projekten leichter tun. Sie scheinen flexibler zu sein. Tänzerinnen und Tänzer mussten zum Beispiel Schauspielen lernen, da ja Sprechtexte auch Teil der Produktionen sind. Die Männer haben sich schwerer getan; sie haben zum Beispiel  für den Fall, dass sie den Faden verlieren, Spickzettel geschrieben. Künstlerinnen hatten auch weniger Scheu beim Austausch mit Wissenschafterinnen und Wissenschaftern. Sie haben sich in die Materie eingelesen und dann immer wieder Fragen gestellt. Die Künstler wollten lieber von den Wissenschafterinnen und Wissenschafter hören und dann ohne weiteren Einfluss an der künstlerischen Umsetzung arbeiten. Das sind aber nur persönliche Beobachtungen der letzten Jahre, keine wissenschaftlichen Erkenntnisse :)!

VCÖ-Magazin: Wesentlicher Auslöser der Klimakrise ist der Verkehr und die Verbrennung fossiler Kraftstoffe – war das auch schon Thema Ihrer Arbeit?

Gloria Benedikt: Indirekt ja. In Dancing with the Future ging es um die Ressourcengerechtigkeit. Das Publikum musste entscheiden wie viele Ressourcen es selbst verbrauchen und wie viele es der nächsten Generation hinterlassen würde. Das Publikum konnte sehen wie sich diese Entscheidungen auf die nächste Generation, die auf der Bühne verkörpert wurde, auswirkt.

Zum Thema Verkehr und Mobilität gäbe es viele Möglichkeiten zur künstlerischen Auseinandersetzung. Man könnte zum Beispiel eine Geschichte über das Reisen erzählen. Bis etwa 1850 sind die Menschen fast CO2 frei unterwegs gewesen. Natürlich war das Reisen viel beschwerlicher und eingeschränkter. Aber der Fortschritt so wie wir ihn jetzt haben, ist nicht besonders intelligent. Wir verschmutzen die Luft und stehen im Stau. 2050 könnten wir in einer Welt ankommen, wo wir uns zwar anders fortbewegen, aber auch nicht mehr die negativen Seiten der Mobilität haben. Diese Reise beginnt jetzt. Wenn man diese größere Geschichte versteht, und welche Rolle wir darin spielen, ist Verhaltensveränderung auch kein Verzicht mehr. Für diese Übersetzung von Wissen in Verständnis brauchen wir die Kunst.

VCÖ-Magazin: In der Corona-Pandemie erleben wir Wissenschaft im Spannungsfeld von Welterklärung und Wissenschaftsskepsis – kann Kunst da hilfreich sein?

Gloria Benedikt: Auch hier ist zu sehen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse zur Lösung des Problems nicht ausreichen. Um vom pandemischen zum endemischen Stadium zu gelangen, braucht es eine Kombination von technischen Lösungen und Kooperationsverhalten. Die technischen Lösungen sind zum Beispiel impfen und testen. Aber wie sehr sie bei der Pandemiebewältigung einen Beitrag leisten, hängt vom Verhalten der Menschen ab. Das Verhältnis von zwei demokratischen Grundprinzipien - der individuellen Freiheit und der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft - muss neu verhandelt werden. Dazu könnten zum Beispiel Theaterstücke geschrieben, oder Gesellschaftsspiele erfunden werden. Auch humoristische Formate könnten helfen, die Absurdität dieser Zeit zu verarbeiten und Menschen mit verschiedenen Ansichten einander wieder näher zu bringen. Dazu müssten aber die Kulturbetriebe flexibler werden, um schneller auf gesellschaftliche Entwicklungen reagieren zu können. Sowohl in der Pandemie als auch beim Klimawandel haben wir eine moralische Verantwortung. In der Pandemie gegenüber unseren Mitmenschen und beim Klimawandel gegenüber den nächsten Generationen. Wir brauchen dringend Künstlerinnen und Künstler, die sich damit auseinandersetzen.

Das Gespräch führte Christian Höller

 


Gloria Benedikt ist Absolventin der Ballettakademie der Wiener Staatsoper (2001) und der Harvard Universität (2013). Sie hat das Kunst & Wissenschaftsprojekt am Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) geleitet und ist Visiting Fellow am Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM). www.gloriabenedikt.com

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