Ingrid Thurner - direkt gefragt
"Schon im Gilgamesch-Epos wird gereist"
Mit der Sozialanthropologin Ingrid Thurner sprach das VCÖ-Magazin darüber, wie durch die Industrialisierung zur alten Zweckmobilität die Erlebnismobilität hinzukam, welche Faktoren das persönliche Reiseverhalten prägen und was Reisen nachhaltiger macht.
VCÖ-Magazin: Gereist wurde immer schon, früher war das Reisen eine Zweckmobilität, sie diente etwa dem Handel, der Bildung, der Gesundheit (Kur), der Religion (Pilgern) oder Verwandtenbesuchen. Wann und warum hat sich das geändert?
Ingrid Thurner: Mit der Industrialisierung kam es verstärkt zu Lohnarbeit, die an bestimmte Zeiten gebunden war, dadurch entstand Freizeit, und es stieg der Erholungsbedarf. Wesentlich für die Herausbildung einer Erlebnismobilität ist das gesetzlich verankerte Recht auf Urlaub samt Entgeltfortzahlung und Pensionsregelungen. Natürlich bedarf es auch technologischer Voraussetzungen zur Überwindung des Raumes, also Transportmittel und die entsprechenden Verkehrswege, zunächst Dampfschifffahrt, dann Eisenbahn, Auto, Bus, Flugzeug. Notwendig waren auch Entwicklungen im Bereich der Telekommunikation, der Ausbau von touristischen Infrastrukturen.
VCÖ-Magazin: Ist das Reisen ein natürliches Bedürfnis des Menschen oder wird durch die Reiseindustrie Reiselust erst geweckt und bedient und Reiseziele definiert?
Ingrid Thurner: Sowohl als auch. Die ältesten Schriftquellen befassen sich mit Mobilitäten, die Tontafelarchive aus Mesopotamien erzählen von Kriegszügen, von diplomatischen Beziehungen und von Handelsmissionen in entfernte Regionen. Gereist wird im Gilgamesch-Epos, im Alten Testament, bei Homer. Die Geschichte des Menschseins ist auch eine der Bewegung im Raum. Freizeittourismus ist als Sonderform menschlicher Mobilität zu betrachten. Und hier setzt die Reisebranche an, die ständig neue Produkte schafft, entferntere Destinationen anpeilt und somit das vorhandene Bedürfnis nach Erholung, Abwechslung und Erlebnis in gewinnträchtige Bahnen lenkt.
VCÖ-Magazin: Es sind vor allem Bürgerinnen und Bürger aus wohlhabenden Staaten, die sich an der internationalen Freizeit-Mobilität beteiligen. Welche Faktoren beeinflussen das Reiseverhalten am stärksten?
Ingrid Thurner: Von der Statistik Austria wird in vierteljährlichen Befragungen die österreichische Reise- und Urlaubspraxis gemäß der EU-Verordnung zur Tourismusstatistik ermittelt.
Die entscheidende Einflussgröße ist das Bildungsniveau. Am häufigsten verreisen Personen, die eine Universität oder Fachhochschule absolviert haben, am seltensten Personen ohne Pflichtschulabschluss. Dieser Befund wird von der Aufschlüsselung nach der Erwerbstätigkeit bestätigt: Beamte und Vertragsbedienstete führen, gefolgt von Studenten und Schülern, an dritter Stelle liegen Angestellte. Der zweitwichtigste Faktor ist das Alter, am reiselustigsten ist die Gruppe der 15-24jährigen. Wenig Einfluss auf die Reiseintensität haben das Geschlecht und der Familienstand, und noch nicht einmal das Einkommen ist wirklich entscheidend. Wer ein kleines Budget zur Verfügung hat, greift eben auf kostengünstigere Angebote zurück. Also formal hoch Gebildete mit wenig Geld sind in der Freizeit mobiler als wenig Gebildete mit viel Geld.
Der dritte soziodemographische Faktor nach der Schulbildung und dem Alter ist die Wohnortgröße. Nahezu drei Viertel der über fünfzehnjährigen Wiener unternimmt jährlich eine mindestens fünftägige Urlaubsreise, aber nur etwa die Hälfte der Bewohner von Gemeinden bis 2000 Einwohner.
VCÖ-Magazin: Wie ist mehr klima- und umweltverträgliche Mobilität, also Verhaltensänderungen was Reiseverkehrsmittel und auch Reiseziele betrifft, in der heutigen Selbstverständlichkeit des Reisens umsetzbar?
Ingrid Thurner: Einerseits ist die Tourismuspolitik der jeweiligen Reiseländer gefordert, dass Phänomene des Overtourism vermieden werden, dass nicht einzelne Bevölkerungsgruppen Nachteile durch die touristischen Entwicklungen erleben und dass durch breite Streuung von Profiten möglichst viele Personen partizipieren können.
Anderseits kann jeder einzelne beitragen, etwa in der Wahl des Verkehrsmittels, Bahn oder Schiff statt Flugzeug, Bus statt Pkw. Wer eine kleinere familienbetriebene Unterkunft wählt, nützt eher der Region als jemand, der in einem internationalen Kettenhotel absteigt, das die Gewinne soweit wie möglich steuerschonend exportiert.
VCÖ-Magazin: Wird die Covid 19-Pandemie, die das Reisen international zum Erliegen gebracht hat, das Reiseverhalten der Menschen verändern, jetzt wo Mitmenschen als Ansteckungsgefahr identifiziert werden? Oder auch weil etwa der Urlaub in Österreich stark thematisiert wird?
Ingrid Thurner: Vorübergehend wohl ja – solange bis das Thema wieder aus den Medien ist. Wenn die globale Reisefreiheit wiederhergestellt sein wird, steht zu befürchten, dass die ökonomischen Interessen stärker sein werden als jene, die eine sozial- und umweltverträgliche Reisetätigkeit favorisieren.
Ingrid Thurner, Sozialanthropologin, Ethnologin, Lehrbeauftragte für Reisen, Tourismus und Fremdwahrnehmungen am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien.