Lebensraum statt Gefahrenzone

Tempo 30 in Graz: Mittlerweile unter anderem auch in Leoben, Dornbirn, Ansfelden, Mödling, Bad Ischl und Wolfurt.

Mit Tempolimits, Begegnungszonen und Fahrradstraßen werden Straßen wieder zu Lebensräumen. Und kreative Lösungen für den Öffentlichen Verkehr tragen dazu bei. Siegerprojekte quer durch die Geschichte des VCÖ-Mobilitätspreises machen es vor: Zuerst ausgezeichnet, dann vielfach nachgeahmt.

>> von Ursula Jungmeier-Scholz

Es ist ein Teufelskreis: Fahren mehr Autos, fühlen sich die, die gehen und Rad fahren, unsicher – und steigen ins Auto. Dadurch nimmt die Unsicherheit zu. Aus dem Lebensraum Straße wird eine Gefahrenzone. Quer durch die 25-jährige Geschichte des VCÖ-Mobilitätspreises demons-trieren Projekte, wie sich dieser Teufelskreis durchbrechen lässt. Dabei zeigt sich: Funktioniert das System einmal, lassen sich selbst anfängliche Kritikerinnen und Kritiker überzeugen.

Akzeptanz wächst mit der Zeit

1991, ein Jahr bevor in Graz flächendeckend (außer auf Vorrangstraßen) Tempo 30 eingeführt wurde, standen gerade einmal 44 Prozent der Bevölkerung dem Projekt positiv gegenüber. Drei Jahre danach mehr als drei Viertel und im Jahr 2014 sogar bereits 85 Prozent. Graz wagte als erste europäische Stadt diesen Schritt – und erhielt dafür den VCÖ-Mobilitätspreis. Das Motiv für Tempo 30 war ein pragmatisches: „Als die ersten baulichen Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung gesetzt wurden, ist der Druck aus der Bevölkerung so gewachsen, dass es unfinanzierbar gewesen wäre, überall Fahrbahnverschwenkungen oder Schwellen zu errichten“, berichtet Barbara Ender, Leiterin des Verkehrsreferates im Straßenamt. „Billiger war es, flächendeckend Tempo 30 vorzuschreiben.“ Die Zahl der Unfälle mit Personenschaden reduzierte sich rasch und dauerhaft um 20 Prozent, während sie österreichweit durchschnittlich um etwa 1,5 Prozent sank.

Das 30er-Gebiet wird laufend nachjustiert, indem etwa zusätzliche Straßen auf Tempo 30 reduziert werden. „Die Gebiete dürfen allerdings nicht zu groß werden, sonst wird das Tempolimit nicht mehr eingehalten“, berichtet Ender. Vor Schulen darf auch auf Vorrangstraßen nur mehr 30 gefahren werden. Tempo 30 flächendeckend wurde mittlerweile auch von Leoben, Judenburg, Dornbirn, Ansfelden, Mödling, Bad Ischl und Wolfurt übernommen.

„Sharrow“ in Reutte: Eine Bodenmarkierung hält in Erinnerung, dass hier mit Radverkehr zu rechnen ist.

Regionalbus fährt im Stadtverkehr

Auch ländliche Regionen suchen Wege, um Straßen menschenfreundlicher zu gestalten. So beschäftigt sich der Verein Regionalentwicklung Außerfern REA auch mit Mobilität und moderiert Prozesse. Dafür gab es im Jahr 2007 den VCÖ-Mobilitätspreis. Ausgangspunkt war die Rettung der Außerfernbahn, es folgten ehrenamtliche Mikro-ÖV-Projekte wie das Ruftaxi Pflach.

Zwei Entwicklungen fanden erst kürzlich in der Bezirkshauptstadt Reutte statt: Die von Füssen kommenden überregionalen Busse enden nun nicht mehr beim Bahnhof, sondern werden als kleinstädtischer Öffentlicher Verkehr quer durch Reutte bis zur Alpentherme weitergeführt. Und seit dem Jahr 2013 gibt es Sharrows (share = teilen, arrow = Pfeil), Bodenmarkierungen, die auf Radverkehr hinweisen. Da im Ort viele Straßen zu eng für Radwege sind, zieren die Fahrbahn dort Pfeile und Radpiktogramme, die signalisieren, dass hier Platz für Radfahrende ist. Jetzt trauen sich wieder mehr Menschen aufs Rad.

Sorgenkind bleibt die staureiche Fernpassstraße, für die auf Landesebene gerade eine Mobilitätsstrategie erarbeitet wird. „Samstags sind wir oft richtig im Ort eingesperrt“, erzählt Günther Salchner vom Verein REA. Auch der Widerspruch zwischen dem regionalen Naturparktourismus und dem Motorradparadies auf den Bergstrecken bleibt ein heißes Thema.

Der Wolfurter Weg: Tempo 30, Fahrradstraßen, Begegnungszonen – Verkehrskonzept aus einem Guss.

Beim Reden kamen die Leut‘ zusammen

Aktiv agieren anstatt reagieren wollte der Bürgermeister von Wolfurt. Die Vorarlberger Kleinstadt wächst – und da jede neue Straße ein Gestaltungskonzept erfordert, wurde eine einheitliche Lösung beschlossen: Tempo 50 auf der Landesstraße, 40 auf Verbindungen zu den Nachbar-gemeinden, ansonsten Tempo 30. Vier Fahrradstraßen und eine Begegnungszone wurden errichtet. „Das ist die erste Begegnungszone auf einer stark befahrenen Landesstraße – und sie funktioniert“, resümiert Bürgermeister Christian Natter.

Nach gut zwei Jahren Vorbereitungszeit startete das Projekt im Jahr 2015. Als Lohn gab es den VCÖ-Mobilitätspreis 2015. Der sogenannte Wolfurter Weg basiert auf Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger, die von diesen sehr aktiv wahrgenommen wurde. In acht Ortsteilgesprächen wurde der Nutzen erklärt – weniger Lärm, mehr Sicherheit – bei minimalem Zeitverlust. Zahlreiche informelle Diskussionen folgten. „Kurz vor der Einführung gab es schon recht heftige Wortmeldungen“, erinnert sich Natter. „Aber jetzt stehen rund drei Viertel der Veränderung positiv gegenüber.“ Ähnlich wie in Graz.

>> Weitere vorbildliche Projekte: www.vcoe.at/projektdatenbank

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