Milo Rau - direkt gefragt
„Zum Realen gehört, sich Konflikten auszusetzen“
Der gebürtige Schweizer Milo Rau ist Theatermacher und seit Juli 2023 Intendant der Wiener Festwochen. Im Herbst erschien sein Essayband „Die Rückeroberung der Zukunft“.
VCÖ-Magazin: In „Die Rückeroberung der Zukunft“ benennen Sie unter anderem praktische Solidarität und reale Utopie als wichtige Aspekte für utopisches Denken. Warum sind die beiden wichtig?
Milo Rau: Ich glaube, dass die Verbindung der Worte wichtig ist. Solidarität etwa ist ja oft ein vager Modebegriff, aber sie wird praktisch innerhalb von Projekten, innerhalb von sehr abgegrenzten Dingen, die gemacht werden. Und reale Utopie ist für mich, anders als die bloße utopische Vorstellung, eine Utopie, die auch wirklich stattfindet. Das kann eine Zusammenarbeit sein, vielleicht eine Art, zu produzieren usw., etwas was wirklich passiert, mit allen Problemen, die dazu gehören.
Das Schöne an Utopien ist ja, dass sie wunderschön ausgemalt sind, aber wenn es real wird, ist es auch schwierig. Zum Realen gehört, dass man sich diesen Konflikten auch aussetzt. Darin liegt für mich die Wirklichkeit des Engagements.
VCÖ-Magazin: Warum ist es so wichtig, Prozesse anzustoßen, die Offenheit und Teilhabe signalisieren, die unter Mitwirkung aller wachsen?
Milo Rau: Ein Zitat, das ich immer gern wiederhole ist: „Ich kann alleine nicht denken“. Wenn man mit sich selber ist, passiert nichts, was man nicht schon weiß. Und wenn man mit Leuten, mit denen man gemeinsam auf der Schule war, eine Company macht, dann erfährt man vermutlich auch nichts Neues, weil man den gleichen Hintergrund hat. Deshalb bin ich davon überzeugt, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die man vorher nicht gekannt hat, die vielleicht andere Absichten und andere Hoffnungen, andere Notwendigkeiten oder Arbeitsweisen haben. Das erweitert das Projekt für alle. Aus eins und eins ergibt sich dann nicht zwei, sondern vielleicht fünf oder sechs. Es ergibt sich vielleicht etwas ganz Neues, das niemand vorgesehen hat.
VCÖ-Magazin: Dranbleiben spielt in ihrem Essay auch eine wichtige Rolle. Was bedeutet für Sie Dranbleiben?
Milo Rau: Ich wurde zum Beispiel oft gefragt: Wie gelang es eigentlich, dass der Innenminister im Kongo, der nachher entlassen wurde, bei deinem Projekt Kongo Tribunal mitgemacht hat? Weil er ja nichts dabei gewinnen konnte, er konnte nur etwas verlieren. Und ich habe immer geantwortet, man muss einfach dranbleiben. Die Leute sagen 50-mal nein und dann irgendwann ja. Am Schluss passiert vielleicht etwas, das man nicht vorgesehen hat, und unter 50 Leuten findet man die eine Person, die total wichtig für das Projekt ist. Das andere am Dranbleiben ist das, was wir Mikroökologie nennen könnten, dass etwas bleibt, etwas, das nach dem Projekt, nach der Premiere, nachdem man einen Film aufgeführt hat, weitergeht. Also man sollte nicht denken, Premiere und vorbei. Im Grunde ist Kunst eher der Vorwand, um etwas zu schaffen, das unabhängig vom Kunstwerk und vielleicht auch von der Kunst insgesamt weitergeht.
VCÖ-Magazin: Wie geht Utopie 2023? Woher kann die Inspiration dafür kommen?
Milo Rau: Ich glaube, dass sich die Zivilgesellschaft wieder viele Entscheidungsmöglichkeiten und reale Handlungsmöglichkeiten zurückholen sollte. Heute wird ja gesagt, warte ab, in vier Jahren kannst du wählen und dann wählt man zwar die Grünen, aber die gehen eine Koalition mit den Liberalen ein und können nicht mal das Tempolimit nach unten setzen. Und das ist eine Enttäuschung. Ich glaube, die Zivilgesellschaft, wir selber, müssen die Dinge wieder an uns nehmen und sagen, wir organisieren uns wieder selber. Da kann man sich in Lateinamerika, teilweise in Osteuropa, in vielen Regionen, die eine größere Tradition der nachbarschaftlichen Zusammenarbeit haben, unglaublich beeindruckende Inspiration holen. Die Landlosenbewegung in Brasilien etwa, das ist wie eine Nation innerhalb der Nation, die haben eigene Verteilsysteme, eigene Anbausysteme und eigene Schulen …
Prinzipiell denke ich, die Lösung muss vielleicht von woanders herkommen, von außerhalb, von den Peripherien der globalen Gesellschaft… indigenes Wissen, etwa auch die Zapatistische Bewegung in Mexiko finde ich da sehr bedeutsam. Oder die Selbstorganisation der Bauern in Süditalien. Das sind Sachen, die für mich total wichtig sind. Kunst ist da oft ein Raum, in dem man sehr schnell Menschen zusammenbringt und Solidarität schaffen kann, weil es ein Freiraum ist, der weniger Zwängen unterliegt.
VCÖ-Magazin: Was vermag Kunst, was zum Beispiel eine NGO nicht kann?
Milo Rau: Ich glaube, Kunst findet eigentlich oft in einem Utopieraum statt, sie ist meistens ergebnisoffen. Niemand sagt, aha, du bist Künstler, ich will, dass es nachher irgendwie total funktioniert, sondern man sagt, ihr setzt euch zwei Monate zusammen, mal sehen, was rauskommt. Oft findet man das auf dem Weg heraus, manchmal sogar erst nach der Premiere. Und ich glaube, das zeichnet die Kunst, so wie ich sie verstehe – als ein kollektiver Denkraum –, von allen Bereichen unserer Gesellschaft aus. In den meisten anderen Bereichen, das geht bis ins Privatleben hinein, muss alles funktional sein, alles muss was bringen, alles muss irgendwie ein Outcome haben. Das ist in der Kunst nicht der Fall. Es ist im Grunde eine zutiefst sinnhafte, im funktionalen Sinn aber zutiefst sinnlose Handlung, und das macht sie passend, um vielleicht Dinge herauszufinden, die es vorher noch nicht gab.
VCÖ-Magazin: Werden Klimakrise und vielleicht sogar Mobilität in ihrem „kämpferischen Welttheater“ für die Wiener Festwochen eine Rolle spielen?
Milo Rau: Ja, sogar eine zentrale! Wir stellen uns in fünf Themenkomplexen Fragen, über die man jetzt noch nicht detailliert sprechen kann. Natürlich ist die Frage, wie man ökologisch mit den Ressourcen umgeht, wenn man ein internationales Gastspiel-Theater bzw. Festival ist, extrem wichtig. Das ist ja quasi ein Format, das dem Vorwurf des CO2-Abdrucks extrem – und zu Recht –, ausgesetzt ist. Gleichzeitig ist es so, Wien ist ein Zentrum der Weltkunst und gibt es ganz viele Peripherien, in Brasilien, in Afrika usw., wenn diese Künstler nicht die Möglichkeit haben, zu koproduzieren, hier ihre Werke zu zeigen, dann bleiben sie ausgeschlossen. Wie findet man einen Weg in dieser widersprüchlichen Lage? Wäre es besser, wir würden gar nicht produzieren und gar nicht reisen – oder wollen wir eine globale Gesellschaft, wo wir die Leute nicht aus den Zentren ausschließen und es die Notwendigkeit gibt, sie zu produzieren und zu zeigen? Das ist eine unserer Hauptfragen.