Politik braucht neue Prioritäten

Eva Horn direkt gefragt

„Wir brauchen eine Neupriorisierung der politischen Ziele!“

Mit der Geisteswissenschaftlerin Eva Horn sprach das VCÖ-Magazin darüber, warum die Geisteswissenschaften zur aktuellen umweltpolitischen Diskussion beitragen müssen, warum Anthropozän eine wichtige neue Sichtweise bedeutet, wie Klimaforscher politisch gemacht wurden und warum Mobilität neu gedacht werden muss.

VCÖ-Magazin: Wie kamen Sie dazu, sich als Geisteswissenschaftlerin mit aktuellen Umweltthemen zu beschäftigen?

Eva Horn: Mein Buch „Zukunft als Katastrophe“ hatte schon eine ökologische Komponente. Seitdem beschäftige ich mich mit dem ökologischen Gegenwartszustand. Zwei Begriffe sind mir da ganz wichtig: Klima und Anthropozän. Die Frage, die mich dabei bewegt: Was haben wir Geisteswissenschaftler, die historisch denken, die über Kulturen, über  die Gesellschaft nachdenken, zu dieser ökologischen Krise zu sagen? Wie gehen Kulturen damit um, wie Individuen? Welche kulturellen Praktiken sind es, die diese Krise hervorrufen, aber natürlich auch: was können wir machen?  Wir müssen auch unser Leben, unseren Alltag, unsere Vorstellung von Politik  anders denken  - angesichts dieser Krise.  Das ist eine sehr geisteswissenschaftliche Problematik.

„Die Klimaforscher wurden politisch gemacht“

VCÖ-Magazin: Lassen sich da über einen interdisziplinären Zugang neue Sichtweisen gewinnen?

Horn: Es ist unser Job, als Wissenschaftlerin, als Wissenschaftler, nicht nur in der Geisteswissenschaft, im Moment  wirklich über die Disziplinen hinweg zu denken. Es geht unter dem Begriff Anthropozän um einen völlig anderen Dialog der Wissenschaften untereinander und auch um  ein anderes Verständnis von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich viel politischer begreifen. Die Klimaforschung wurde politisch gemacht, weil  ihre Ergebnisse von Lobbyisten angezweifelt wurden. Sie mussten in die Politik einsteigen, um das, was sie zu sagen haben, überhaupt transportieren zu können. Wenn die Wissenschaft etwas beschreibt und nicht gehört wird, dann müssen wir anders kommunizieren, deutlicher werden.  Dafür brauchen wir den Dialog zwischen den Fächern.

„Anthropozän erweitert die Perspektive von Nachhaltigkeit“

VCÖ-Magazin: Der Begriff Anthropozän – warum ist er wichtig? Was bringt er Neues in die Diskussion ein?

Horn: Der Begriff kommt aus den Erdsystemwissenschaften. Diese schauen auf den Zustand des Planeten, die Mechanismen der Natur als ein Gesamtsystem,  das sich selbst reguliert. Sie stellen Fragen wie: Was hat der Salzgehalt des Meers mit dem Schnee auf Bergen zu tun? Wie funktionieren die Regulationsmechanismen der Natur? Die Natur kann relativ gut immer wieder gegensteuern, wenn etwas aus dem Gleichgewicht gerät. Aber die vom Menschen gemachte ökologische Krise heute wird mit natürlichen Mechanismen nicht mehr abzufedern sein. Dafür steht der Begriff Anthropozän. Er erweitert die Perspektive von Nachhaltigkeit, denn dieser Begriff wurde lange in dem Sinn gebraucht, dass etwas immer so weitergehen kann. Heute können wir nicht mehr so weitermachen wie bisher. Wir brauchen eine Wende, wir müssen umbauen – wir brauchen nicht „nachhaltige“ Autos, sondern keine. Wir brauchen eine andere Mobilität, andere Vorstellungen davon, wie wir durch die Welt kommen. Umweltprobleme haben wir lange als lokale Probleme betrachtet – jetzt müssen wir sie als planetarische Krise verstehen, die  überall auf der Welt ein anderes Gesicht hat.

VCÖ-Magazin: Der Beginn des Anthropozäns wird in den 1950er Jahren angesetzt?

Horn: Ja, mit einer vom Menschen geprägten geologischen Schicht, die weltweit zu finden ist, nämlich dem Fallout der Atombomben-Tests. Und wir haben seit den 1950er Jahre eine ganze Menge ansteigender Parameter, sowohl Umweltparameter, also ein scharfes Ansteigen von CO2, Methan, Stickoxiden, als auch großer Konsumparameter, wie Verbrauch bestimmter Ressourcen, Erhöhung der Mobilität, die Durchsetzung von Erdöl und Erdgas als fossile Energieträger.

VCÖ-Magazin: Durch die fossilen Brennstoffe, erst die Kohle, dann das Öl, ist der Mensch global immer prägender geworden. Schaufeln wir uns unser eigenes Grab?

Horn: Der Mensch ist eine anpassungsfähige Spezies, so schnell ist er nicht auszurotten. Die Natur ist auch sehr anpassungsfähig, aber wenn die Natur sich neu organisiert, ist das für sehr viele Lebewesen ziemlich schlimm, da gibt es große Aussterbewellen. Die Menschen schaufeln zuerst vor allem das Grab für andere Arten. Die Menschheit ist so zahlreich wie noch nie zuvor und konsumiert die Ressourcen der Natur wie nie zuvor, während andere Arten verschwinden.  Das hat auch mit Mobilität zu tun. Wir müssen uns klar machen, unsere Mobilität ändert Gesellschaften, ändert Individuen, ändert Alltag und verändert auch die Psyche des Menschen.

„Wir brauchen eine Neupriorisierung von politischen Zielen!“

VCÖ-Magazin: Das Bewusstsein für diese Probleme steigt. Aber die Politik reagiert zögerlich.

Horn: Politik ist nicht darauf ausgerichtet, transnationale Probleme wie das Klima zu behandeln. Immerhin hat ausgerechnet eine Kinder-Bewegung wie Fridays for Future geholfen, das endlich ins öffentliche Bewusstsein zu bringen. Aber Politik ist nicht darauf ausgerichtet langfristig zu handeln. Sie versteht sich als ein Versorgungsunternehmen, das immer wieder weniger Steuern und mehr im Geldbörsel verspricht. Individuell sind wir ja nicht daran interessiert, unseren Konsum zu reduzieren, umzustellen, neu zu organisieren. Im Moment liegt alles beim Einzelnen. Wir brauchen aber die Unterstützung der Politik. Warum gibt es Regelungen über die Größe der Gummimuffen in der Waschmaschine, aber kein Gesetz, das verbietet Geräte zu verkaufen, die nach fünf Jahre geplant kaputt gehen? Wir brauchen eine Neupriorisierung der politischen Ziele! Umweltpolitik ist gegenwärtig die dringlichste Aufgabe in der Politik – und diese Dringlichkeit haben interessanterweise Kinder auf die Agenda gesetzt!

VCÖ-Magazin: Müsste nicht auch die Mobilität verstärkt unter dem Umweltaspekt gesehen werden?

Eva Horn: Wir haben das Problem einer Art Hypermobilität. Wir sind zu mobil. Wir müssen darüber reden, was das kostet. Mobilität muss insgesamt anders berechnet werden. Denn diese ständig steigende Mobilität nutzt ganz viele Dinge – wie Straßen, Landebahnen, Ressourcen für Verpackung und vieles mehr, die auch von Leuten finanziert werden, die selber nicht so mobil sind. Und es ist die Frage, ob wir Leuten, die jetzt noch nicht geboren sind, einfach die Spätfolgen dieser Mobilität aufbürden dürfen.

„Ein Blick aus der Zukunft auf die Gegenwart ordnet das Bild neu.“

VCÖ-Magazin: Sie schreiben, Zukunftsfiktionen erhellen nicht nur die Zukunft, sondern vor allem auch die Gegenwart, die Wirklichkeit, in der wir leben.

Eva Horn: Das können Erzählungen oder Filme besonders gut: aus der Zukunft einen Blick auf die Gegenwart zu werfen. Dann ordnet sich das Bild neu. Es zeigt sich, was in einer Gegenwart unbeachtet ist, aber sich später als problematisch herausstellen wird.  Oder auch als unhaltbar. Dieses Erzählverfahren „aus der Zukunft“ wird aber nicht nur in der Literatur genutzt, sondern auch von Branchen, die sich mit Zukunft beschäftigen müssen, etwa Versicherungen. Wir müssen mal bewusst durch unseren Alltag gehen, durch das Leben, das wir leben, durch die Reden unserer Politiker etc. und überlegen, wie wir das in 30 oder 50 Jahren sehen würden.

VCÖ-Magazin: Nehmen Dystopien heute – im Vergleich zu früher – überhand, wird der Blick pessimistischer?

Eva Horn: Ich glaube, es gibt Grund zu Pessimismus. Greta Thunberg ist auch pessimistisch.  Es gibt sowas wie heuristischen Pessimismus, der darin bestehen kann, zu sagen, ich will etwas sehen, was nicht in Ordnung ist. Aus diesem Pessimismus heraus will ich die Gegenwart verstehen. Und das hat sie, glaube ich, gemacht, auf eine ganz naive Weise.

Eva Horn, Universität Wien/Institut für Germanistik, Buch „Zukunft als Katastrophe“. Beschäftigt sich interdisziplinär mit dem ökologischen Gegenwartszustand – im September 2019 erscheint bei Junius ihr neues Buch über das Anthropozän.

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