Und jetzt kommt das Gehen

Wohlüberlegte Planung, langjähriges Ausprobieren und die Überzeugung, dass eine historisch gewachsene Stadt nicht an den Autoverkehr anzupassen ist. Diese Haltung prägt den Mobilitätswandel in der niederländischen Universitätsstadt Utrecht. Wollen Menschen in der Innenstadt leben, müssen sie ihre Einstellung zur Mobilität ändern.

Von Doris Neubauer

Utrecht ist anders. Das spürt jeder, der durch die Straßen der 380.000-Einwohner-Stadt spaziert. Die historisch gewachsene Innenstadt gleicht einem Experimentierfeld für innovative Verkehrsentwicklung: Statt Verbotsschilder weisen Bodenmarkierungen auf Plätzen dezent auf verschiedene Benutzungsmöglichkeiten hin. Statt getrennter Fahrbahnen für Autos, Fahrrad und Gehende ist ein Großteil der City als Begegnungszone gestaltet, in der sich sämtliche Verkehrsbeteiligte auf breiten Flächen ohne Bordsteine friedlich nebeneinander tummeln. Allen voran die Radfahrenden. Mehr als 100.000 dieser „fiet“ – so die holländische Bezeichnung – sind werktäglich auf dem über 245 km langen Radroutennetz unterwegs. 43 Prozent aller Fahrten unter 7,5 Kilometern werden mit dem Fahrrad erledigt. Das ist selbst für die Niederlande beeindruckend, in denen das Fahrrad seit den 1970er-Jahren zur nationalen Identität gehört. Nicht aus Umweltgründen, wie Ronald Tamse, seit 22 Jahren in der Stadt- und Verkehrsentwicklung Utrechts tätig, betont. Radfahren wurde erfolgreich als Gegenmaßnahme zur damaligen Ölkrise sowie zu Autounfällen mit Kindern promotet. „Zuerst brauchst du Katastrophen, dann schaffst du gute Infrastruktur für die Alternative“, so fasst der Experte scherzend das Rezept für einen Umstieg auf nachhaltigen Verkehr zusammen.

Unnötiges entfernen, Raum schaffen

Was in Utrecht so spielerisch zu funktionieren scheint, ist das Ergebnis wohlüberlegter Planung, langjährigen Ausprobierens und vor allem einer klaren Botschaft: „Mittelalterliche Städte wie Utrecht sind nicht für Autos und Parkplätze ausgelegt“, bringt Ronald Tamse diese auf den Punkt. „Wir können die Stadt nicht ändern oder abreißen. Wir brauchen andere Lösungen.“ Wenn die Menschen in der Innenstadt leben wollen, ist Tamse überzeugt, müssen sie ihre Einstellung ändern. Das fördere weniger der erhobene Zeigefinger, sondern subtile Maßnahmen für ein besseres Zusammenleben. „Viele Stadt- und Verkehrsplaner fokussieren sich zu stark auf Regeln“, hält Tamse wenig von Zwang. „Wir stellen keine Verbotsschilder oder Säulen auf, sondern entfernen Unnötiges und schaffen Raum. Die Menschen reagieren instinktiv richtig.“ Beispiele dafür finden sich in Utrecht zuhauf: So konnten etwa vielerorts die Fahrbahnen für Radfahrende wie Gehende verbreitert und gleichzeitig konnten Pkw-Parkplätze an der Straße dadurch abgeschafft werden, dass Fahrbahn und Gehsteig ohne Höhenunterschiede ineinander übergehen. Parkplätze für Autos in der Innenstadt sind schon heute selten zu finden und sollen schrittweise weiter reduziert werden, um künftig ausschließlich Anrainerinnen und Anrainern zur Verfügung zu stehen.

Radgarage als Poststelle

Doch nicht immer sind umfassende infrastrukturelle Änderungen notwendig, manchmal bringen auch kleine Aktionen große Verbesserungen: So sorgt die Doppelnutzung etwa als Poststelle für eine einladende Atmosphäre in sonst düsteren Radgaragen. „Durch solch einfache Maßnahmen kann sich viel verändern“, ist Tamse überzeugt. „Außerdem zeigt es, dass Radfahren und andere Alternativen ernst genommen werden.“ Wie ernst, das lässt sich auch im Neubaugebiet auf der anderen, der Hafenseite des Bahnhofs von Utrecht feststellen. Als die Stadtregierung der viertgrößten und schnellst wachsenden urbanen Region des Landes dort vor vier Jahren ihre Zentrale errich tete, verzichtete sie auf Parkplätze für ihre rund 3.000 Mitarbeitenden. Nur für Menschen mit Behinderung sind einige Plätze reserviert. „Mehr Parkplätze sind unnötig“, weiß Ronald Tamse und argumentiert: „Der Bahnhof ist gleich um die Ecke.“ Aufgrund Utrechts zentraler Lage ist der Bahnhof der wichtigste Knotenpunkt für den niederländischen Nah- wie Fernverkehr. Alle dreißig Minuten verkehren Züge zwischen dem internationalen Flughafen Schipol und der Stadt. Sechs Züge pro Stunde fahren in die Metropole Amsterdam. An Werktagen kommen hier etwa 90.000 Pendelnde an. Unter anderem zum Unternehmen „Rabobank“, das sich als zweites Großprojekt am Hafen ansiedelte und sich am Vorgehen der Stadtverwaltung ein Beispiel nahm. Statt Geld in Parkplätze für Mitarbeitende zu investieren, konnte es von Utrecht als Finanzpartner für die Verwirklichung einer öffentlichen Passage zwischen Bahnhof und Rabobank an der Hafenseite gewonnen werden. Diese hat sich mittlerweile als schnellster und vor allem bequemster Weg etabliert, in den neuen Stadtteil zu gelangen – zu Fuß und natürlich auch mit dem Fahrrad.

Die Menschen verstärkt zum Gehen bewegen

Als Lösung für sämtliche Herausforderungen moderner Städte möchte der Niederländer das Fahrrad allerdings nicht verstanden wissen. Im Gegenteil. Radfahren stellt Amsterdam und Utrecht, wo es mehr Fahrräder als Menschen gibt, längst vor neue Probleme. „Da jeder zum Bahnhof radelt, fehlt es an Abstellmöglichkeiten“, leidet Utrecht laut Ronald Tamse am Erfolg der Verkehrsalternative. „Das geht seit den 1980er-Jahren so. Wir hinken hinsichtlich der Infrastruktur immer dem Bedarf hinterher.“ Zwar wird Ende des Jahres 2019 der weltweit größte Radparkplatz mit 12.500 Stellplätzen eröffnet, doch auch das löse die Probleme nicht dauerhaft. „Während andere Städte noch dabei sind, das Radfahren zu fördern, wollen wir die Niederländerinnen und Niederländer verstärkt zum Gehen bewegen“, erklärt Tamse. So solle etwa die Strecke zum geplanten Grün-Erholungsraum am anderen Ende des historischen Stadtkerns zu einer einladenden Flaniermeile mit zahlreichen Attraktionen werden.

Zurück zur Übersicht

Stellplatzvorgaben umfassend reformieren

Landesgesetze und lokale Stellplatzverpflichtungen schreiben vor, dass bei Bauprojekten Auto-Stellplätze errichtet werden müssen. Vorgaben für den Öffentlichen Verkehr, Gehen, Radfahren oder Sharing sind oft weniger verbindlich oder fehlen. Damit bleibt die Auto-Nutzung geförderter Standard. Innovative Projekte zeigen, dass der Wohnbau großes Transformationspotenzial hat.

Mehr dazu
Garage eines Mehrparteienhauses mit Autos und Fahrrädern