Unser Verkehrssystem ist veränderbar

Von Christian Höller

Good Practice: 39 Prozent Anteil des Öffentlichen Verkehrs machen Wien zu einer international beachteten Vorbildstadt.

Mobilitätsverhalten ist nichts Naturgegebenes, sondern das Ergebnis langfristiger Transformationsprozesse. Neue öffentlich zugängliche Angebote laden zum Ausprobieren und Kennenlernen ein. Kreativität und Kunst erweitern spielerisch das Denkbare.

In Wien wurde im März 1980 eine Volksbefragung durchgeführt, ob der Öffentliche Verkehr beschleunigt werden soll, etwa durch Schaffung eigener Gleiskörper für Straßenbahnen oder Vorrang für die Straßenbahn bei Ampeln. 77,5 Prozent sagten Ja zu diesen Maßnahmen. Das war einer der Meilensteine, der Wien zum heutigen Anteil von 39 Prozent des Öffentlichen Verkehrs an den zurückgelegten Wegen führte und zu einer international beachteten Vorbildstadt des Öffentlichen Verkehrs macht. Im Jahr 2006 wurde in Stockholm gegen viel Widerstand – zwei Drittel der Bevölkerung lehnten sie zu diesem Zeitpunkt ab – die City-Maut auf Probe eingeführt. Ein Journalist tobte im „Svenska Dagbladet“ gegen die „ideologische Konstruktion“, die zeige, was an der politischen Kultur in Schweden verrückt sei. Nach einem sechsmonatigen Probebetrieb wurde dann über die City-Maut abgestimmt, 53 Prozent stimmten für die Beibehaltung. Die Wirkungen der City-Maut haben überzeugt: weniger Verkehr, weniger Stau und bessere Luft.

CO2-frei fair und sauber mobil

Im Jahr 2015 kamen in Österreich bereits 28 Prozent des CO2-Ausstoßes aus dem Verkehr. 53 Prozent davon wurden vom Pkw-Verkehr verursacht, der Rest großteils durch den Güterverkehr. Zugeparkte Städte, 25.500 Verkehrstote jährlich allein in der EU, immer mehr durch Straßen und Parkflächen versiegelte Böden, der Diesel-Betrugskandal – die Entzauberung der Monokultur Autoverkehr schreitet voran. Unter dem Eindruck des instabil werdenden Klimas und der damit verbundenen Notwendigkeit, den CO2-Ausstoß gegen Null zu senken, ist die Dekarbonisierung, die Mobilität ohne Nutzung fossiler Kraftstoffe, heute ein zentrales Thema.

Vom Individualverkehr zurindividuellen Mobilität

In den letzten Jahren sind viele neue Mobilitätsangebote entstanden, wie Bike- und Carsharing, Elektro-Fahrräder, Transportfahrrad-Verleihe, emissionsfreie Lieferdienste für Güter und Einkäufe sowie Bedarfsverkehre. Pilotprojekte laden zum Ausprobieren und Kennenlernen der verschiedenen öffentlich zugänglichen Angebote ein. Digitale Plattformen verknüpfen sie als Mobility as a Service (MaaS) zu individuell zusammenstellbaren, multimodalen Gesamtangeboten, die mit einer Rechnung beglichen werden. In Großstädten nutzen immer mehr Menschen verschiedene Mobilitätsmöglichkeiten, je nach Weg. Die Mobilitätsforschung hat dazu in Großstädten einen neuen Mobilitätstypus identifiziert, nämlich Menschen, die sich an innovativen und flexiblen Zugängen für urbane Mobilität orientieren. Sie sind über die neuesten Trends im Mobilitätsbereich informiert und gerne bereit, diese auszuprobieren. Darüber hinaus unterstützen sie technologische Entwicklungen und haben hohes Umweltbewusstsein. Menschen dieses Mobilitätstypus machen etwa in Berlin und London bereits ungefähr 15 Prozent der Bevölkerung aus.

Nicht nur ein Mehr an Technologie

Zur individuellen Mobilität braucht es nicht unbedingt ein Mehr an Technologie. „Ich fahre gern mit dem Taxi, weil ich kein Auto besitze, und bezahle lieber den Fahrern und Fahrerinnen das Geld, denn ich spare mir dafür mehrere Hundert Euro für die Autoversicherung und Instandhaltung – es ist eine andere Form von Carsharing“, beschreibt Barbara Schmelzer-Ziringer, Forscherin und Lehrende für Kulturwissenschaften, Gender Studies und Modedesign, ihr Mobilsein im Interview auf der Website www.superstation.at, die Menschen zu ihrer Mobilität und dem Warten als Zwischenzustand kombinierter Mobilität befragt.

Zielorientiert Transformationsprozesse in Gang setzen

Unser Verkehrssystem ist weder unbeeinflussbar noch unumkehrbar. Die Privatauto-Dominanz in den früh industrialisierten Staaten ist ebenso das Ergebnis jahrzehntelanger zielorientierter Transformationsprozesse wie die hohe Fahrradnutzung in Kopenhagen oder das gute System des Öffentlichen Verkehrs in Wien. Doch ob Straßenverkehrsordnung, Personenbeförderungsgesetz, die Steuerbegünstigungen für Dienstwagen oder die Stellplatzverpflichtung – nach wie vor sind die rechtlichen und steuerlichen Rahmenbedingungen auf den Pkw im Privatbesitz ausgerichtet. Darauf zielt auch Daniel Hausknost vom Institut für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit der Wirtschaftsuniversität Wien, wenn er ein Problem der Institutionen ortet und die Politik in der Pflicht sieht: „Es ist nötig, die Demokratie zu transformieren, die Politik von der fossilen Wirtschaft zu entkoppeln. Umgelegt auf den Verkehr, heißt das etwa Subventionen für fossile Energie zurückzunehmen. Wenn Staaten wie Großbritannien und Frankreich jetzt konkrete Deadlines gesetzt haben und den Verkauf von Autos mit Verbrennungsmotoren bis zum Jahr 2040 beenden wollen, schafft das einen ökonomischen Tipping Point, der wirkliche Veränderungen im Mobilitätsverhalten schon jetzt einleiten kann.“ Und die Kunst kann sich als Versuchslabor anbieten, ausprobieren und anschaulich machen, was der Politik noch undenkbar scheint. So lud Milo Rau, einer der einflussreichsten Theaterregisseure Europas, Anfang November 2017 Menschen aus der ganzen Welt, die unterschiedlichste politische Anliegen vertreten, zur „General Assembly“ an die Berliner Schaubühne, der versuchsweisen Volksvertretung für alle Menschen und Lebewesen der Welt, zur Überwindung nationaler Interessen durch globale Gerechtigkeit: „Ich glaube, dass Zukunft im Spiel sichtbar und formbar wird. Wir wollen das Wissen und die Erfahrungen, die wir haben, in Institutionen gießen, etwa indem wir jetzt in Berlin spielerisch ein Weltparlament gründen. Es müssen jene Möglichkeiten, die für richtig erachtet werden, institutionalisiert und Netzwerke gebaut werden. Was etwa die Klimakatastrophe angeht, die ist bewiesen, darüber muss nicht mehr geredet werden. Wir müssen was dagegen tun“, so Rau im Interview mit der „Zeit“.

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