Wie Wohnen Bewegung ins Leben bringt

Der großzügige Fahrradabstellraum in bester Lage eingeplant, die Fußläufigkeit der Gemeinde stimmig gemacht, die Haltestelle den neuen Wohnhäusern vor die Tür gesetzt. Zeitgemäßer Wohnbau und innovative Siedlungsentwicklung erschließen der Mobilität vielfältige Wege.

>> Von Ursula Jungmeier-Scholz

Vier von fünf Wegen beginnen oder enden daheim. Folglich spielt die Lage des Zuhauses eine zentrale Rolle bei der Wahl des Verkehrsmittels. Wer so wohnt, dass Lebensmittelgeschäft, Kindergarten und Apotheke zu Fuß erreichbar sind, wird eher gehen oder das Rad nutzen. Ähnlich motivierend wirken auch attraktive Fußwege, Radstreifen und eine optimierte Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel. Gleichzeitig ist es nötig, dem Auto nicht länger einseitig Vorrechte einzuräumen. „Führt der kürzeste und bequemste Weg von der Wohnung zum Auto, ist das Gift für eine vernünftige Verkehrsmittelwahl“, betont Karl Reiter von der Forschungsgesellschaft FGM in Graz. Während Siedlungsanlagen traditionell immer noch primär für Autofahrende gebaut und mit teuren Parkplätzen ausgestattet werden, rücken zukunftsweisende Projekte bewegungsaktive Mobilität in den Vordergrund und nicht die Autoparkplätze.

Die Mobilitätsmöglichkeiten deutlich erweitert

So haben sich jene 67 Erwachsenen, die in das „Wohnprojekt Wien“ am ehemaligen Nordbahnhofgelände (Siegerprojekt VCÖ-Mobilitätspreis Wien 2014) eingezogen sind, darauf geeinigt, die sechs in das Projekt eingebrachten Privatautos miteinander zu teilen. Die Plattform für privates Carsharing, carsharing247.com, hat dafür ihr Buchungssystem zur Verfügung gestellt, mit dem Berechtigte die Autos nutzen können. „Diese Kooperation ist eine große Hilfe für uns. Damit haben wir als Verein Zugang zu einem professionellen Buchungs- und Abrechnungssystem bekommen“, erklärt Jan Hilmar, Leiter der Mobilitätsgruppe des Wohnprojekts.

In den Mobilitätsmittelpunkt rücken beim Wohnprojekt Wien die Fahrräder: ein 120 Quadratmeter großer, heller Radabstellraum mit großen Fenstern, in dem die Räder teilweise doppelstöckig Platz finden, und einer Reparaturzone. Gemeinsam besitzt die Hausgemeinschaft auch ein Lastenfahrrad, das gegen freie Spende ausleihbar ist. „Damit führe ich beispielsweise meine Wasserkisten“, erzählt Bewohner Markus Spitzer. „Mit dem Einzug in dieses Haus haben sich auch ohne Auto meine Mobilitätsmöglichkeiten deutlich erweitert.“

Garagen finanzieren Mobilitätsangebote

Aber nicht nur kleine, von den Bewohnerinnen und Bewohnern geplante Projekte setzen auf Wohnen mit umweltfreundlicher Mobilität. In der Seestadt Aspern in Wien, die nach Fertigstellung mehr als zehntausend Wohnungen umfassen wird, deren Mobilitätsfonds mit dem VCÖ-Mobilitätspreis 2014 ausgezeichnet wurde, wird ein Modal Split von 40 Prozent Fuß- und Radverkehr, 40 Prozent Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und nur einem Fünftel Autoverkehr angepeilt. Pro Wohnung sind 0,7 Auto-abstellplätze vorgesehen und zwei zur Wohneinheit gehörige Radabstellplätze. Dazu kommen zahlreiche Radabstellanlagen auf öffentlichem Grund – angebunden an ein fahrradfreund-liches Wegenetz. Die Fußwege werden im Endausbau mit breiten Gehsteigen und Verweilbereichen locken, sind barrierefrei und flächendeckend mit einem Blindenleitsystem ausgestattet.

Wer einen Autoabstellplatz benötigt, kann ihn in einer der Sammelgaragen anmieten. Pro Stellplatz zahlen die Garagenbetreiber anfangs 1.000 Euro in einen Mobilitätsfonds ein. In diesen fließen auch zwei Prozent der Garagenmieten. „Mit diesem Geld werden nachhaltige Mobilitätsprojekte wie ein Fahrradverleihsystem, ein Lieferservice via Lastenrad, Raddepot-Boxen, ein Radreparaturservice und das Carsharing finanziert“, erklärt Lukas Lang von der Wien 3420 Aspern Development AG. Die Seestadt Aspern ist auch sehr gut an den Öffentlichen Verkehr angebunden, durch mehrere Buslinien und durch die Verlängerung der U-Bahnlinie U2.

Durch Nahversorgung kurze Wege schaffen

Zum Konzept der Seestadt gehört auch das Prinzip der kurzen Wege: Die Nahversorgung durch eine -Shopping-Meile mitten durch das Siedlungsgebiet hilft, Einkaufsverkehr zu vermeiden. Bis die Geschäfte Mitte des Jahres 2015 besiedelt sein werden, versorgt ein mobiler Greißler die ersten bereits eingezogenen Mieterinnen und Mieter.

Auch die Vorarlberger Gemeinde Hard setzt auf Wegevermeidung: Sie hat mitten im Zentrum das Gelände einer aufgelassenen Textilfabrik in Bauland umgewidmet. Dort wurden bereits 43 Wohnungen gebaut. 15 Wohneinheiten im Pflegeheim und der Gemeindesaal werden noch folgen. Ob Lebensmitteleinkauf oder Amtsweg – die wichtigsten Ziele sind fußläufig erreichbar. Weitere Geschäfte im Siedlungsbereich sind geplant. Jener Bus, der zum Bahnhof fährt, quert das Siedlungsgelände. Und zum Einzug bekommen alle, die „In der Wirke“ wohnen, ein zweiwöchiges Schnupper-abo für den Öffentlichen Verkehr geschenkt. So wird umweltfreundliches Mobilitätsverhalten von Anfang an schmackhaft gemacht, denn eine spätere Änderung eingefahrener Gewohnheiten fällt erfahrungsgemäß schwer.

Bestehende Strukturen nachträglich verbessern

Auch in bestehenden Strukturen lässt sich aktive Mobilität forcieren. So plant eine Tiroler Wohnbaugenossenschaft im Innsbrucker Zentrum die Aufstockung bestehender Bauten ohne zusätzliche Parkplätze. In den neuen Geschoßen werden relativ kleine Wohnungen errichtet, für Singles und Paare, die eher dazu bereit sind, ohne eigenes Auto zu leben. Den Neuzuziehenden werden neben der guten Anbindung an den Öffentlichen Verkehr großzügige Radabstellanlagen geboten und auch der Zugang zu Car-sharing und Leih-Elektro-Fahrrädern.

Auch Wegenetze können in bestehenden Siedlungen optimiert werden, wie das Preisträger-Projekt des VCÖ-Mobilitätspreis 2014 im Vorarlberger Montafon beweist: Im Zuge der Raum-entwicklung Montafon haben acht Gemeinden ihre bestehenden Fußwege kartiert, sind sie gemeinsam abgegangen, haben alte Wegerechte aufgespürt und sich auf die Suche nach sinnvollen Lückenschlüssen gemacht. „Da reicht es oft schon, eine kleine Brücke über einen Bach zu errichten oder ein Wegstück zu mähen und zu pflegen, um geniale Abkürzungen zu schaffen“, berichtet Christoph Breuer, Geschäftsführer von Kairos, der gemeinnützigen Bregenzer Gesellschaft für Wirkungsforschung und Entwicklung. Das Projekt stieß in der Bevölkerung auf breite Akzeptanz.

Information schafft Entscheidungsgrundlagen

Auch privat kann jeder Wohnungssuchende und jede potenzielle Häusl-bauerin bereits bei der Wahl des Wohnorts Mobilitätsmöglichkeiten und -kosten in die Entscheidung einbeziehen. Als Entscheidungshilfe zwischen Speckgürtel und Zentrum ging in Hamburg vor fünf Jahren der WoMo-Rechner online. Wohnungssuchende geben ihre Daten ein und bekommen für verschiedene Standorte berechnet, wie hoch in Kombination Wohn- und Mobilitätskosten ausfallen. Der Rechner wurde mittlerweile vielfach übernommen, und seit einem Jahr gibt es mit dem Haushaltsrechner MORECO für das Bundesland Salzburg eine heimische Variante. „Allein im ersten Jahr verzeichneten wir 6.600 Zugriffe“, berichtet Daniela Bischof vom Salzburger Institut für Raumordnung und Wohnen. Auch ein Siedlungsrechner wurde kreiert, der für Raum- und Verkehrsplanung, Gemeinden und die Wohnbauwirtschaft fundierte Daten für die Standortwahl liefert, und eine – häufig genutzte – Präsentation mit Grundlagenwissen der Raumplanung für Bürgermeister und Bauamtsleiterinnen.

Nicht zuletzt leistet auch die Sprache, mit der Wohnen und Mobilität ohne Zwang zum eigenen Auto vermarktet wird, einen Beitrag zur Sensibilisierung und höheren Akzeptanz: indem umfassend über Angebote für Gehende und Radfahrende und im Öffentlichen Verkehr informiert wird und nicht die Autoerreichbarkeit im Mittelpunkt steht.

 

>> Zur Autorin: 
Ursula Jungmeier-Scholz ist freie Journalistin in Graz

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