VCÖ-Fachkonferenz: Verkehrssystem nimmt auf Kinder viel zu wenig Rücksicht

Fachleute fordern stärkere Einbeziehung der Kinder in die Verkehrsplanung und ein kindgerechtes Verkehrssystem

Wien (25. März 2021) – Kinder werden in ihrer Mobilität durch das Verkehrssystem stark eingeschränkt. Die Gesundheitsentwicklungen bei Kindern zeigen, dass ein großer Handlungsbedarf besteht, eigenständige, aktive und sichere Kindermobilität zu fördern, stellten heute Expertinnen und Experten aus Österreich, Deutschland und der Schweiz bei einer VCÖ-Fachkonferenz fest. Gefordert wird die stärkere Einbeziehung von Kindern in die Verkehrsplanung sowie Maßnahmen für ein kindgerechtes Verkehrssystem.

Vor Covid-19 legten die 6- bis 14-Jährigen in Österreich rund ein Drittel ihrer Alltagswege zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurück, ein Drittel mit öffentlichen Verkehrsmitteln und bereits ein Drittel im Auto sitzend. Noch im Jahr 1995 war diese Altersgruppe bei der Hälfte ihrer Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs. Der Anteil der aktiven Mobilität war mehr als doppelt so hoch wie das Mitfahren im Auto, macht der VCÖ aufmerksam.

Juliane Stark, Assoziierte Professorin am Institut für Verkehrswesen der Universität für Bodenkultur Wien betonte in ihrem Vortrag: „Aktuelle Mobilitätstrends und Gesundheitsentwicklungen bei Kindern zeigen, dass ein großer Handlungsbedarf besteht, eigenständige, aktive und sichere Kindermobilität zu fördern. Die Gestaltung eines kindgerechten Verkehrs- und Mobilitätssystem bedeutet nicht nur die Schaffung von Infrastruktur, die das sichere Gehen, Rollern und Radfahren fördert, sondern sieht den Verkehrsraum darüber hinaus auch als Raum zum Aufenthalten und Spielen - als Lebensraum. "Kindgerecht" bedeutet auch, die Bedürfnisse und Verkehrskompetenzen junger Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer zu berücksichtigen.“ Der deutsche Soziologe Peter Höfflin von der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg ergänzte: „Heute werden Kinder in ihrem Recht auf freies Spiel und eigenständige Mobilität massiv eingeschränkt. Dies hat erhebliche Folgen für ihre Entwicklung und Gesundheit. Für Kinder, aber wahrscheinlich auch für uns alle, verspricht die klimaverträgliche Verkehrswende wohl einen erheblichen Gewinn an Lebensqualität zu bringen."

Dass es schon heute anders gehen kann, zeigt Amsterdam, wo mehr als die Hälfte der Kinder mit dem Fahrrad zur Schule fährt, in Österreich waren es vor Covid-19 gerade mal sechs Prozent. Der hohe Radfahranteil ist die Folge der Verkehrsplanung und des konsequenten Ausbaus der Rad-Infrastruktur, erklärte Norbert Mol vom „Bicycle Heroes Program Amsterdam“ bei der VCÖ-Fachkonferenz und empfahl die stärkere Einbindung von Kindern und Jugendlichen in die Verkehrsplanung. „Durch die Einbeziehung von Kindern wird berücksichtigt, was Erwachsene übersehen und gleichzeitig wird die städtische Umgebung spielerischer und integrativer gestaltet. Ein Verkehrssystem, das für Kinder komfortabel und sicher ist, kommt allen Bevölkerungsgruppen zugute.“

Auch die Schweizer Hauptstadt Bern nimmt die Einbeziehung von Kindern ernst. Ein eigenes Kinderparlament hat im Verkehrsbereich unter anderem längere Grünphasen bei einigen Fußgängerampeln erreicht, autofreie Bereiche vor Schulen und diesen Sommer startet als Pilotprojekt ein kostenloser Verleih von Kinder-Fahrrädern, berichtete Anne Wegmüller von der Fachstelle SpielRaum.

VCÖ-Experte Michael Schwendinger plädierte, den Mensch in den Mittelpunkt der Verkehrsplanung und der Richtlinien, wie etwa der StVO, zu stellen. „Ein kindgerechtes Verkehrssystem ermöglicht Kindern eigenständige Mobilität, was zahlreiche positive Effekte hat: Kinder kommen damit auf eine regelmäßige Portion gesunde Bewegung, sie lernen Selbständigkeit, haben mehr soziale Kontakte, sind in der Schule von der ersten Stunde an konzentrierter und nicht zuletzt werden auch die Eltern entlastet, weil zeitraubende Fahrten mit dem Elterntaxi eingespart werden.“

Ein Modell, das Schulumfeld sicherer zu machen, sind Schulstraßen, die in Wien seit dem Jahr 2018 umgesetzt werden. „Die Schulstraße ist eine Antwort auf das tägliche Verkehrschaos vor Schulen. Sie ist aber auch eine Antwort auf die zunehmende Bewegungsarmut der Kinder. Etwa jedes 8. Wiener Volksschulkind wird mit dem Auto zur Schule gebracht. Im Jahr 2015 war es sogar noch jedes 5. Kind“, so Petra Jens von der Mobilitätsagentur Wien.

Christian Bezdeka, der Gründer des Kinderfahrrad-Herstellers woom, wies auf den „Corona Rad-Effekt“ hin: „Noch nie waren so viele Menschen in Österreich bereit aufs Rad zu steigen. Wenn wir dieses Potenzial auf die Straße bringen wollen, muss sich in den Städten viel ändern. Radinfrastruktur ist ein entscheidender Faktor, gerade für Familien und Kinder!” Auch die Vorsitzende des Vereins Junge Menschen und Mobilität aus Berlin, Gabi Jung, betonte, dass Kinder für ein nachhaltiges Mobilitätsverhalten in erster Linie Platz und eine sichere Infrastruktur benötigen.

Petra Völkl, Referentin im Klimaschutzministerium weist auf das klimaaktiv mobil Programm „Mobilitätsmanagement für Schulen“ hin, das bereits von als 500 Bildungseinrichtungen genutzt wurde und betont: „Kinder müssen sich in einer gesunden Umwelt autonom und sicher bewegen können. Die Verkehrs- und Stadtplanung der Zukunft muss daher die Bedürfnisse und das Lebensumfeld unserer Kinder berücksichtigen und sie miteinbeziehen. Ein kindgerechtes Verkehrssystem kommt schließlich uns allen zu Gute!"

Die Psychologin Bettina Schützhofer erinnerte: „Es liegt in unserer Verantwortung, die Rahmenbedingungen zu schaffen, die es ermöglichen, Kinder in sicheren, altersgemäßen und begleiteten Schritten aktiv mobil sein zu lassen, ohne sie dabei zu über- oder unterfordern.“  Und der Lustenauer Bürgermeister Kurt Fischer unterstrich die Möglichkeiten der Gemeinden und Städte, die Rahmenbedingungen für aktive Mobilität für Jung und Alt zu verbessern. „Lustenau hat das Ziel, den Radverkehrsanteil auf 30 Prozent zu erhöhen. Mit gezielten Investitionen in die Radinfrastruktur und durch die Förderung der lokalen Radkultur möchte die Marktgemeinde Lustenau den Beispielen europäischer »Fahrradhauptstädte« folgen und zukünftig in ihrer Liga mitspielen.“

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