Mobilitätswende durch flächendeckendes Angebot
Ohne flächendeckende Mobilitätsangebote auch im ländlichen Raum ist die Mobilitätswende nicht zu schaffen. Dafür notwendig sind der Ausbau des Linienverkehrs, neue nachfragebasierte Angebote und ein dichtes Netz an Infrastrukturen für das Gehen und Radfahren.
Hinsichtlich der Erfüllung der Klimaziele ist der Verkehr nach wie vor Österreichs größter Problembereich. Im Gegensatz zu den anderen Sektoren haben die Treibhausgas-Emissionen des Verkehrs vom Jahr 1990 bis zum Jahr 2022 um die Hälfte zugenommen und waren für knapp 30 Prozent der gesamten Treibhausgas-Emissionen Österreichs verantwortlich.163 Rund 60 Prozent der Verkehrsemissionen verursachten Pkw.111 Davon entstehen wiederum knapp 60 Prozent in den peripheren Regionen.112,113 Ein unzureichendes Angebot im Öffentlichen Verkehr sowie ein lückenhaftes Geh- und Radwegenetz verstärken die durch Zersiedelung ohnehin schon hohe Abhängigkeit vom Pkw. Diese äußert sich in einem deutlich höheren Pkw-Besitz, einem höheren Anteil an Alltagswegen mit dem Pkw und weiteren zurückgelegten Entfernungen.32
Weniger als die Hälfte der Bevölkerung hat guten Zugang zum Öffentlichen Verkehr
Seit dem Jahr 2015 wird in Güteklassen bewertet, wie gut die Bevölkerung Österreichs in den unter-schiedlichen Regionen mit Öffentlichem Verkehr versorgt ist.107 Die fußläufige Erreichbarkeit, die Zahl und Qualität der öffentlichen Verkehrsmittel sowie die Dichte der Intervalle kennzeichnen sieben Kategorien von höchstrangiger Erschließung (Kategorie A) bis Basiserschließung (Kategorie G).a,107 Knapp die Hälfte der Menschen in Österreich lebte im Jahr 2020 in Gebieten mit zumindest guter Erschließung durch den Öffentlichen Verkehr (Kategorien A bis D), 37 Prozent verfügen über eine Basiserschließung (Kategorien E bis G). 16 Prozent sind außerhalb der Güteklassen und haben somit keinen Zugang zum Öffentlichen Verkehr.17,109,148
Fehlendes Öffi-Angebot im ländlichen Raum
Die Erschließungsqualität ist räumlich sehr unterschiedlich verteilt. In Wien lebt die gesamte Bevölkerung in Gebieten mit guter oder sehr guter Erschließung mit Öffentlichem Verkehr, in den fünf großen Landeshauptstädten Graz, Linz, Salzburg, Innsbruck und Klagenfurt sind es durchschnittlich immerhin 94 Prozent. Aber bereits in den sonstigen zentralen Bezirken – etwa Eisenstadt oder Klagenfurt-Land – sind es im Schnitt nur noch 44 Prozent und in peripheren Bezirken wie Spittal an der Drau oder Gmünd sind es im Schnitt lediglich 16 Prozent mit guter Erschließung.b,17,109,148 Umgekehrt leben zehn beziehungsweise 29 Prozent der Menschen in diesen Bezirken abseits der vom Öffentlichen Verkehr erschlossenen Gebiete. Das bedeutet, dass in den peripheren Bezirken beinahe jede dritte Person über keine Anbindung an den Öffentlichen Verkehr verfügt.17,109,148
Das System der sogenannten „ÖV-Güteklassen“ beruht jedoch nur auf dem klassischen linien- und haltestellengebundenen Öffentlichen Verkehr. Nachfragebasierte Anrufsammeltaxis oder Rufbusse fehlen etwa. Da solche Zusatzangebote laufend an Bedeutung gewinnen, sollten die Definitionen der ÖV-Güteklassen entsprechend angepasst werden.107
Fehlender Öffentlicher Verkehr verdoppelt CO2-Fußabdruck für Mobilität
Fast die Hälfte der Bevölkerung Österreichs lebt in peripheren Bezirken.b,150 Vielerorts ist hier das öffentliche Verkehrsangebot mangelhaft. Fehlende Angebote im Öffentlichen Verkehr und Infra-struktur für die aktive Mobilität führen zu einer starken Pkw-Abhängigkeit samt daraus folgendem hohen CO2-Ausstoß.
Die Menschen aus peripheren Bezirken legen zwei Drittel ihrer Wege mit dem Pkw zurück und verursachen damit pro Werktag im Schnitt 7,2 Kilogramm CO2-Emissionen pro Kopf. Im gut mit Öffentlichem Verkehr ausgestatteten Wien legen die Menschen weniger als 30 Prozent ihrer Wege mit dem Pkw zurück und verursachen mit 3,6 Kilogramm pro Werktag nur halb so viel CO2-Ausstoß. Personen aus den fünf anderen
Großstädten und den zentralen Bezirken liegen mit 4,3 beziehungsweise 4,8 Kilogramm CO2 pro Werktag dazwischen.32,88,112,113 Für die Mobilitätswende und die notwendige Reduktion der Treibhausgas-Emissionen auf Null ist daher der Öffentliche Verkehr in den Regionen stark zu verbessern.
Mobilitätsbedürfnisse klimaneutral decken
Alltägliche Mobilität ist kein Selbstzweck, sondern gehört wie Wohnen, Arbeit, Bildung und Erholung zu den gesellschaftlichen Grundbedürfnissen. Zum Erreichen der Klimaziele müssen laut Mobilitätsmasterplan 2030 die im Auto zurückgelegten Kilometer zugunsten von Öffentlichem Verkehr, Gehen und Radfahren um rund ein Viertel sinken.29 Dazu muss ein flächendeckendes, qualitativ hochwertiges Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln aufgebaut werden. Durch klimaverträgliche Mobilitätsangebote sollten alle alltäglichen Bedürfnisse ohne Besitz eines Privat-Pkw befriedigt werden können. Solch ein flächendeckendes Mobilitätsangebot kündigte die Bundesregierung in ihrem Regierungsprogramm 2020-2024 an.27 Der „Klimarat der Bürgerinnen und Bürger“ definierte und forderte eine österreichweite Mobilitätsgarantie an 24 Stunden am Tag, sieben Tagen die Woche und innerhalb von 15 Minuten Gehzeit erreichbar.7 Dafür benötigt es flächendeckend ein zumindest stündlich verfügbares Angebot des Öffentlichen Verkehrs unter Einbindung von nachfrageorientierten Angeboten und Sharing-Lösungen. Auf der Basis des überregionalen Öffentlichen Verkehrs sollte der lokal optimale Maßnahmenmix in regionalen Mobilitätskonzepten entwickelt werden.
Auch am Land sind viele Ziele in fußläufiger Distanz. Laut Mobilitätserhebung Oberösterreich erreichen 61 Prozent der Bevölkerung das nächste Lebensmittelgeschäft zu Fuß in unter 15 Minuten, mehr als die Hälfte zudem einen Kindergarten, eine Volksschule, eine Bank sowie eine allgemein-medizinische Ordination, knapp die Hälfte auch eine Apotheke und eine Post.68 Viele alltägliche Wege lassen sich leicht zu Fuß oder mit dem Fahrrad erledigen, vorausgesetzt es gibt gute und sichere Bedingungen zum Gehen und Radfahren.
Baden-Württemberg plant Umsetzung einer Mobilitätsgarantie bis zum Jahr 2030
Das deutsche Bundesland Baden-Württemberg plant eine Mobilitätsgarantie für seine mehr als elf Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. In urbanen Gebieten soll es einen 15-Minuten-Takt des Öffentlichen Verkehrs geben, in ländlichen zumindest einen 30-Minuten-Takt. Als Ergänzung sind On-Demand-Angebote für die letzte Meile geplant. Bis zum Jahr 2026 sollen die Taktzeiten in der Hauptverkehrszeit realisiert werden. Ab dem Jahr 2030 soll die Mobilitätsgarantie wochentags zwischen 5 und 24 Uhr und an Wochenenden zwischen 6 und 1 Uhr gelten. Kommunen können beim Land bereits bis zu zwei Millionen Euro Zuschuss für Aufbau und Betrieb nachfragebasierter Angebote bekommen. Zusätzlich werden Regiobus-Linien als Ergänzung zum Bahn-Angebot gefördert. Die langfristige Finanzierung teilen sich Bund, Land und Kommunen. Letztere können dafür auch eigene Mobilitätsabgaben in der Region einheben. Die gesetzlichen Grundlagen dafür werden derzeit erarbeitet.
Klimaziele nur mit flächendeckendem Mobilitätsangebot zu erreichen
Laut einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2021 befürworten 87 Prozent der erwachsenen Bevölkerung Österreichs die Umsetzung eines flächendeckenden Mobilitätsangebots.78 Bausteine dafür sind laufende Initiativen zur Angebotsverbesserung, Pilotprojekte und das öffentliche Förderprogramm klima:aktiv mobil.30
Ein vom Verkehrsministerium beauftragtes Forschungsprojekt untersuchte die rechtlichen Voraussetzungen, die verkehrlichen Auswirkungen und die Kosten unterschiedlicher Szenarien. Die fünf untersuchten Szenarien beinhalten neben klassischem Öffentlichen Verkehr in unterschiedlicher Ausprägung auch Elemente aus aktiver Mobilität, Sharing, Fahrgemeinschaften und Konzepte für nachfragebasierte Mobilitätsdienstleistungen sowie Push- und Raumplanungsmaßnahmen. Je nach Szenario sinkt der Pkw-Verkehr im Jahr 2040 gegenüber einem Business as Usual-Szenario um 5 bis 55 Prozent.142 In drei der Szenarien sind die Klimaziele des Verkehrs erreichbar.c,67 Die Kosten für die Umsetzung eines flächendeckenden Mobilitätsangebots betragen dabei zwischen 800 Millionen und 3,5 Milliarden Euro pro Jahr.d,142 Im Vergleich dazu kosteten alleine Neubau und Erhalt von Autobahnen und Schnellstraßen im Jahr 2022 rund 1,1 Milliarden Euro.8 Bundesländer und Gemeinden wenden für das Straßennetz zusätzlich rund drei Milliarden Euro jährlich auf.60
Investitionen in klimaverträgliche Mobilitätsangebote wirken. Die Einführung des S-Bahn-Systems im Jahr 2016 sowie der kontinuierliche Ausbau der Radhauptrouten spiegeln sich im Modal Split der Wege aus dem Umland nach Linz wider. Gegenüber dem Jahr 2012 stieg der Anteil der mit dem Öffentlichen Verkehr zurückgelegten Wege im Jahr 2022 um 2,9 Prozentpunkte auf 26,4 Prozent und der Anteil der Fahrten mit dem Fahrrad um einen Prozentpunkt auf 2,5 Prozent. Besonders bemerkenswert daran ist, dass die Zahl der täglichen Fahrten in die Landeshauptstadt um rund 5.800 gestiegen ist, aber mit mehr als 2.100 davon etwa 37 Prozent des Zuwachses auf das Fahrrad entfallen.68
Flächendeckendes Mobilitätsangebot im Südburgenland
Wegen der ländlichen Besiedelungsstruktur gilt das Südburgenland als schwer mit Öffentlichem Verkehr erschließbar. In einem umfassenden Partizipationsprozess ist es dem Regionalmanagement gemeinsam mit den 72 Gemeinden der Bezirke Oberpullendorf, Oberwart, Güssing und Jennersdorf, dem Land Burgenland sowie Verkehrsunternehmen im Projekt „Südburgenland mobil“ gelungen, ein flächendeckendes Mobilitätsangebot mit rund 1.400 Haltepunkten auszuarbeiten, sodass künftig 90 Prozent der Bevölkerung ein Öffi-Angebot im Umkreis von 300 Metern vom Wohnort zur Verfügung haben. Im September 2023 startete das Burgenländische Anrufsammeltaxi (BAST) als Ergebnis dieses Prozesses den Betrieb. Fahrten können bis 60 Minuten vor Fahrtantritt bestellt werden und es gelten die regulären Tarife, Jahreskarten und Ermäßigungen des Verkehrsverbunds Ost-Region.
Baden-Württemberg plant Mobilitätsgarantie
Das deutsche Bundesland Baden-Württemberg möchte eine flächendeckende Mobilitätsgarantie im Öffentlichen Verkehr umsetzen.85 In fünf Pilotregionen werden seit dem Jahr 2021 Linien- und Bedarfsverkehre für ein attraktives Angebot im Stundentakt von frühmorgens bis spätabends kombiniert, die durch das Bundesland gefördert werden.71 Schrittweise soll das Angebot ausgedehnt werden, im Jahr 2030 landesweit zumindest eine halbstündliche Mobilitätsgarantie gewährleistet sein.85
Dazu soll das Angebot des Öffentlichen Verkehrs landesweit substanziell ausgebaut und verdichtet werden. In den Verdichtungsräumen sollen dann Bus und Bahn während der gängigen Verkehrszeiten zwischen fünf und 24 Uhr zumindest im Viertelstundentakt verkehren. Im ländlichen Raum außerhalb der Verdichtungsräume ist während dieser Zeit zumindest ein Halbstundentakt vorgesehen. In diesem spielen bedarfsgesteuerte Angebotsformen eine zentrale Rolle. Bis zum Jahr 2024 werden dafür landesweit einheitliche, nach verschiedenen Raumkategorien und Tageszeiten differenzierte Mindestbedienstandards entwickelt, abgestimmt und rechtlich verankert.85 Im Rahmen der Vorbereitung werden bis zum Jahr 2026 alle notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen zur Anbindung von Wohn-, Gewerbe- und Handelsstandorten, wichtiger Infrastrukturen wie Krankenhäusern und sonstiger alltäglicher Ziele im Freizeitverkehr geprüft und gegebenenfalls angepasst.85
Regionale Koordinierung für bessere Fahrpläne
In Österreich sind Organisation, Kompetenzverteilung und Finanzierung des regionalen Öffentlichen Verkehrs äußerst komplex. Die geteilte Zuständigkeit und Finanzierung von Bund, Ländern und Gemeinden macht die Planung und Organisation des Öffentlichen Verkehrs in vielen Fällen langwierig und schwierig. Ein Vergleich unterschiedlicher Regionen in Westösterreich zeigt, dass durch eine regionale Koordinierungsstelle bessere Ergebnisse in Bezug auf das Fahrplanangebot möglich sind.125 Im Walgau in Vorarlberg und im Flachgau in Salzburg koordinieren etwa jeweils regionaler Gemeindeverband und Verkehrsverbund zu diesem Zweck den Busverkehr.
Flächendeckende Mobilitätsangebote des Öffentlichen Verkehrs reduzieren die strukturelle Benachteiligung peripherer Regionen sowie auch von mehr als einem Viertel der österreichischen Bevölkerung, die aufgrund von Alter, Einkommen oder körperlichen Einschränkungen selbst keinen Pkw lenken können oder wollen77. Sie sind daher eine unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen der Mobilitätswende. Regionale Pilotprojekte und Beispiele aus anderen Ländern zeigen, dass solch ein klimaverträgliches flächendeckendes Mobilitätsangebot möglich und finanzierbar ist. Was fehlt ist vor allem ein Fahrplan zur Umsetzung.
Mobilitätsgarantie umsetzen
- Ein flächendeckendes Mobilitätsangebot verringert die Auto-Abhängigkeit in den Regionen und erhöht deren Attraktivität.
- Ein gutes Gesamtangebot aus Bus, Bahn und flexiblen Zusatzangeboten ist umsetzbar, wie zahlreiche Pilotregionen vorzeigen.
- Einrichtung einer Taskforce Mobilitätsgarantie mit allen relevanten Stakeholdern zur Realisierung eines flächendeckenden Mobilitätsangebots.
- Auch gute Fuß- und Radwege sowie lokale Nahversorgung im Ort sind wichtig, um alltägliche Ziele klimaverträglich erreichen zu können.