Gender- und Diversity-Perspektive bringt vielfältige Erkenntnisse

Geschlecht ist nicht mehr nur in zwei Kategorien zu denken. Geschlechter sind vielfältig. Die Vielfalt bringt neue Erkenntnisse für die Verkehrsplanung: Das Unterwegssein lässt sich genauer beschreiben, um passgenaue Mobilitätslösungen zu erarbeiten.

Der größte Teil der Hol- und Bringwege wird in allen Gegenden mit dem Auto erledigt, wobei der Anteil von 44 Prozent in Wien bis zu 85 Prozent in peripheren Bezirken reicht. Das Rad wird nur bei ein bis sechs Prozent der Hol- und Bringwege verwendet.
Je nach Wohnort werden unterschiedliche Verkehrsmittel genutzt. Während Wien den höchsten Anteil beim Öffentlichen Verkehr hat, sind es beim Fahrrad die anderen Großstädte.

Die gesellschaftlichen Realitäten zeigen, dass Geschlecht mehr ist als die zweigeschlechtliche Vorstellung von „Frau“ und „Mann“. Geschlechtervielfalt macht darauf aufmerksam, dass Körper und Identitäten über die binäre Normvorstellung hinausgehen können. Menschen in unserer Gesellschaft sind ganz generell von großer Vielfalt geprägt: Frauen, Männer, inter- und transgeschlechtliche Menschen, Junge und Ältere, Menschen mit und ohne Behinderung(en), Menschen mit unterschiedlichen ethnischen Herkünften, Religionen und Weltanschauungen, Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierungen – sie sind im öffentlichen Raum unterwegs und nutzen Mobilitätsangebote. Diese Eigenschaften bilden – analog zu den Antidiskriminierungsbestimmungen – meist die Kerndimensionen von „Diversity“: Alter, Geschlecht, Ethnizität, soziale Herkunft, sexuelle Orientierung, physische und psychische Verfassung sowie Religion beziehungsweise Weltanschauung. Diese Kerndimensionen wirken jedoch so gut wie nie nebeneinander, sondern sie stehen vielmehr miteinander in Wechselwirkung und können sich überlagern. Das auch im deutschsprachigen Raum verwendete englische Wort „Gender“ soll auf Aspekte wie etwa Beruf, Kleidung, Eigenschaften, aber auch Erwartungen und Handlungsmuster hinweisen, die in einer bestimmten Kultur oder Gesellschaftsform als typisch für ein bestimmtes Geschlecht angesehen werden. Dabei müssen das biologische Geschlecht (Englisch: Sex) und das soziale Geschlecht (Gender) nicht übereinstimmen.

Geschlechterrollen prägen unser Unterwegssein und unser Mobilitätsverhalten

Unterschiede zwischen den Geschlechtern ergeben sich in der Mobilität aus der unterschiedlichen Verfügbarkeit der Verkehrsmittel sowie aus den unterschiedlichen Alltagen. Pflege-, Haus-, Familien- und Betreuungsarbeiten – sprich die unbezahlte „Care-Arbeit“ – haben einen starken Einfluss auf das Mobilitätsverhalten.38 Diese unbezahlte Arbeit wird Frauen nicht nur nach wie vor gesellschaftlich zugeschrieben, sondern auch tatsächlich überwiegend von ihnen übernommen. Die letzte Zeitverwendungsstudie wurde in Österreich im Zeitraum 2008 bis 2009 durchgeführt und zeigt, dass Frauen täglich drei Stunden und 42 Minuten für Haushaltsarbeiten verwenden, Männer hingegen nur weniger als zwei Stunden.77 Ob sich dieses Verhältnis seither grundlegend verändert hat, werden die Ergebnisse der Neuauflage zeigen, die voraussichtlich im ersten Halbjahr 2023 veröffentlicht werden. Personen, die im Alltag Betreuungsarbeiten übernehmen, haben wesentlich komplexere Wegeketten als jene, die hauptsächlich zwischen Wohnsitz und Arbeitsplatz verkehren. Sie bringen – meist zusätzlich zum Arbeitsweg – ihre Kinder in den Kindergarten oder zur Schule, zu Sportvereinen oder zu Freizeiteinrichtungen, sie müssen zu Angehörigen und in deren Auftrag zu Ärztinnen und Ärzten, in die Apotheke oder andere Besorgungen erledigen. In Begleitung von Kindern, älteren oder in ihrer Bewegung eingeschränkter Menschen sehen sie sich einer Vielzahl an Herausforderungen gegenüber: etwa mangelndes Platzangebot für Kinderwägen und Gepäck in den öffentlichen Verkehrsmitteln oder Einstiegsbarrieren. Auch die oft im ländlichen Raum vorhandenen Bushaltestellen ohne Wartehäuschen und Sitzgelegenheiten machen das Unterwegssein mit Kindern herausfordernd.

Unterschiedliche Mobilitätsvoraussetzungen

Die räumlichen Voraussetzungen wie Straßen, Wege, Siedlungen und das Vorhandensein von Mobilitätsangeboten bestimmen maßgeblich, wie Personen mobil sein können. Sind keine sicheren Geh- und Radwege vorhanden, ist die nächste Haltestelle des Öffentlichen Verkehrs zu weit entfernt oder Bus und Bahn fahren nicht zu den benötigten Zeiten, dann steigt die Attraktivität des Pkw. Menschen jedoch, die keinen Führerschein besitzen oder die über keinen eigenen Pkw verfügen, sind abhängig von diesen Rahmenbedingungen und infrastrukturellen Voraussetzungen. Darunter sind statistisch gesehen überdurchschnittlich viele Frauen. Sie verwenden weniger regelmäßig das Auto, obwohl die Verfügbarkeit nahezu gleich ist wie bei Männern.13 Dabei spielt die höhere Teilzeitquote unter Frauen eine Rolle. Die Teilzeitquote der Frauen lag im Jahr 2021 bei knapp 50 Prozent.75 79 Prozent aller Teilzeitbeschäftigten im Jahr 2021 waren Frauen. Der Öffentliche Verkehr nimmt auf die abweichenden Bedürfnisse von Teilzeitbeschäftigten in vielen Fällen zu wenig Rücksicht. Die Fahrpläne der öffentlichen Verkehrsmittel sind vor allem in den Regionen auf Schulzeiten und auf die typischen Arbeitszeiten einer von „9 bis 17 Uhr“ vollzeiterwerbstätigen Person abgestimmt. Außerhalb dieser Kernzeiten gibt es oft zu wenig Verbindungen und zu große Intervalle. Günstigere Zeitkarten, wie Wochen- und Monatskarten sind für Vollzeitarbeitskräfte attraktiver als für Menschen in Teilzeit. Sie würden von alternativen Tarifmodellen profitieren – etwa günstigen Angeboten für zwei oder drei Tage pro Woche. Auf den Bedarf von Teilzeitbeschäftigten ist bei öffentlich zugänglichen Mobilitätsangeboten ausreichend Rücksicht zu nehmen.

Stadtplanung für alle

In der Stadtplanung werden die Bedürfnisse von Frauen und anderen marginalisierten Gruppen oft vernachlässigt. Gender Planning versucht konsequent alle Nutzenden miteinzubeziehen. Die schwedische Stadt Umeå ist dabei Vorreiterin. Zum Beispiel fiel auf, dass Spielplätze abends hauptsächlich von Buben besucht wurden. Um den Aufenthalt auch für Mädchen ansprechend zu machen, wurden kleine überdachte Plätze mit großen Hängesesseln errichtet, die durchgängig beleuchtet sind. Auch ein Tunnel wurde so umgestaltet, dass Frauen diesen ohne Angst passieren können. In Wien wurde bei der Umgestaltung des Reumannplatzes auf Wunsch vieler Mädchen eine sogenannte Mädchenbühne gebaut, auf der Tanzperformances, Konzerte und Theater stattfinden.

Lücken in der Datenbasis

Entscheidungsprozesse in der Verkehrspolitik und Verkehrsplanung bauen auf einer modellhaften Abbildung des Verkehrsgeschehens auf. Studien liefern Daten zur Mobilität der Bevölkerung und geben Auskunft zu den quantitativen Kennziffern der Mobilität. Sie erheben etwa die Anzahl der Wege nach Zwecken, Daten zum Pkw-Besitz, zum Besitz von Zeitkarten für öffentliche Verkehrsmittel und die Verkehrsmittelwahl zur Analyse des Modal Split. Wesentliche Aspekte des Mobilitätsverhaltens bleiben aus Gründen der Vereinfachung jedoch ausgeblendet. Es fehlen üblicherweise Fragen zu den Lebenszusammenhängen und unterschiedlichen Lebensphasen der befragten Personen, die sich nicht einfach durch die Erhebung des Familienstands und der Haushaltszusammensetzung erfassen lassen. Wenn in den quantitativen Befragungen etwa konkret nach den Zusammenlebensformen gefragt würde, könnten Familienformen wie „Kinder mit Doppelresidenzen“ differenziert erfasst werden. Die damit einhergehenden Betreuungs- und Begleitwege ließen sich davon ableiten. So könnten die in Zahlen messbaren Indikatoren durch beschreibende ergänzt werden  und könnten gemeinsam in die Verkehrsplanung einfließen. Der Lebenskontext und Angaben wie zur Beschaffenheit und Zugänglichkeit von Verkehrsmitteln und Haltestellen sowie zur Qualität von Rad- und Gehwegen zeichnen erst ein umfassendes Bild des Unterwegsseins und zu den vielfältigen Motiven und Einflussfaktoren der Mobilität von Menschen. Eine weitere Lücke ergibt sich bei der Abbildung des Geschlechts der Teilnehmenden am Mobilitätssystem. Die statistische Erfassung des biologischen Geschlechts bei Erhebungen durch die Abfrage von nur „männlich“ und „weiblich“ ist angesichts vielfältigerer Lebensrealitäten unvollständig. Dabei spielt das Geschlecht eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Interpretation von quantitativen – also den messbaren – Daten. Eine präzisere Erhebung ließe sich jedoch einfach bewerkstelligen. Die in Österreich im Impfwesen verwendeten Fragebögen können dabei als Vorbild verwendet werden. Bei den Fragebögen für Schutzimpfungen werden für die Variable „Geschlecht“ aktuell folgende sechs Antworten angeboten: weiblich, männlich, divers, inter, offen, kein Eintrag.69

Beispielhafte Alltagswege werden in einem autozentrierten und einem nachhaltigen Mobilitätssystem dargestellt. Im ersten Fall entstehen komplexe Wegeketten, im zweiten Fall reduziert die Möglichkeit selbständiger Mobilität die Hol- und Bringwege.
Ein gutes öffentliches Verkehrsangebot und sichere Geh- und Radwege ermöglichen selbständige Mobilität und reduzieren Hol- und Bringdienste.

Sicherheit: individuelle Erfahrungen und strukturelle Dimensionen

Zahlreiche Einflüsse bestimmen das persönliche Sicherheitsempfinden im Verkehr. Einerseits kann der objektiv schlechte oder ungenügende Zustand von Verkehrsinfrastruktur wie Geh- oder Radwegen für Unsicherheit sorgen. Orte im öffentlichen Raum, wie Bushaltestellen oder U-Bahn-Stationen, können zudem bei Menschenleere oder in der Nacht durch die subjektive Wahrnehmung oder persönliche Erfahrungen zu subjektiv gefühlten Angsträumen werden. Vor allem für Frauen und für Angehörige von Minderheiten ist das problematisch. Potenzielle Grenzüberschreitungen durch andere – von Anstarren über Belästigungen oder Beleidigungen bis hin zu körperlichen Übergriffen – wirken in so einem Setting umso bedrohlicher. Gängige Sicherheitsvorkehrungen, wie etwa Videoüberwachung, leisten nicht notwendigerweise einen Beitrag für mehr subjektive Sicherheit.4 Sicherheit muss daher ein integraler Bestandteil der Mobilitätsplanung sein. Das betrifft das Bereitstellen und Instandhalten von verkehrssicherer Infrastruktur für das Gehen und Radfahren ebenso wie eine Gestaltung des öffentlichen Raums und öffentlicher Verkehrsmittel, die Grenzverletzungen entgegenwirkt. Eine gute Beleuchtung, die Einsehbarkeit der Szenerie oder eine bewusste Belebung – etwa durch Bündelung von Haltestellen, Taxistandplätzen und Rad-Abstellanlagen mit der dadurch erhöhten Personenfrequenz – sind Maßnahmen, die das Sicherheitsempfinden deutlich erhöhen können.81

Lösungen für viele – statt einer Lösung für alle

Die Mobilitätswende hat neben ökologischeren Lösungen auch die unterschiedlichen Möglichkeiten und Bedürfnisse von Frauen und marginalisierten Gruppen einzubeziehen. Es sollte vermehrt um Inklusivität und Rücksichtnahme gehen. Denn Mobilität ermöglicht die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, ist Teil einer sozialen Daseinsvorsorge und somit Kernelement einer demokratischen, stabilen, gerechten Gesellschaft.36 Wer die Genderperspektive im Mobilitätsbereich einnimmt, thematisiert einerseits die bestehenden Geschlechterverhältnisse und Hierarchien und trägt andererseits aktiv zu mehr Geschlechtergerechtigkeit bei. Die vielfältigen Alltage, Lebenssituationen und Mobilitätsmuster von Menschen bilden eine wichtige Grundlage jeder Planungsentscheidung. Um Vielfalt und die Perspektive der Geschlechtergerechtigkeit in der Verkehrsplanung und in Mobilitätsangeboten zu berücksichtigen, ist es erforderlich, nicht immer von „einer Lösung für alle“ auszugehen. Werden vielfältige Lebenszusammenhänge und die daraus resultierenden vielfältigen Mobilitätsmuster berücksichtigt, ermöglicht das passgenaue Mobilitätsangebote für viele.

Der VCÖ setzt sich als gemeinnützige Organisation für eine ökologisch verträgliche und sozial gerechte Mobilität mit Zukunft ein. Der Einsatz des VCÖ ist nur Dank der Unterstützung durch Spenden möglich - jetzt spenden

Kinder sind mit Pedibus und Bicibus aktiv mobil

Mit dem Pedibus oder dem Bicibus kommen Kinder gemeinsam zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Schule. In Gruppen wird entlang einer festgelegten Route zu fixen Zeiten der Schulweg bewegungsaktiv zurückgelegt. In Barcelona schon weit verbreitet, gibt es erste Bicibus-Initiativen auch in Wien. Auch bei Meet-and-Bike in Wels kommen Kinder gemeinsam mit dem Fahrrad in die Schule. Der Pedibus hingegen geht bereits in vielen Gemeinden Österreichs. Neben mehr Bewegung für die Kinder gibt es weniger Elterntaxis, damit kein Verkehrschaos vor der Schule, und der Treibhausgas-Ausstoß wird gesenkt. Auch die Begleitwege für Eltern reduzieren sich. Wenn Kinder am Schulweg lernen, selbständig unterwegs zu sein, sind sie auch in ihrer Freizeit sicherer mobil. Außerdem wird so klimaverträgliches Mobilitätsverhalten gelernt.

Verkehrsplanung sensibilisieren

  • Gender Mainstreaming als grundlegende Strategie in der Verkehrsplanung und im Mobilitätssektor anwenden.

  • Mobilitätserhebungen um Fragen zum Lebenskontext und Geschlechterkategorien erweitern, um diese in die  Verkehrsplanung einfließen zu lassen.

  • Expertise im Bereich Gender und Mobilität bei Mobilitätsvorhaben einbeziehen und Entscheidungspersonen sensibilisieren.