Soziokulturelle und -demographische Einflussfaktoren auf Mobilitätsverhalten
Soziokulturelle und soziodemographische Faktoren beeinflussen persönliche Mobilitätsmuster und sind daher in der Verkehrsplanung stärker zu berücksichtigen. Es geht dabei sowohl um materielle Faktoren wie Haushaltseinkommen als auch um immaterielle wie Wertehaltungen.
Großen Einfluss auf das Mobilitätsverhalten hat das Haushaltseinkommen. Haushalte mit höherem Einkommen geben überproportional mehr Geld für Mobilität aus als jene mit niedrigerem Einkommen. Während es im ersten Einkommensquartil nur sechs Prozent (81 Euro) der Haushaltsausgaben sind, beträgt dieser Wert im einkommensstarken vierten Quartil 18 Prozent (1.100 Euro). Der Öffentliche Verkehr nimmt in allen Einkommensgruppen rund ein Prozent der Haushaltsausgaben ein. Haushalte mit hohem Einkommen geben also sowohl in absoluten Zahlen als auch anteilig an ihrem Mobilitätsbudget überproportional viel für das Auto aus.76 Personen mit höherem Einkommen legen zudem pro Tag durchschnittlich deutlich längere Strecken zurück, wie Zahlen aus der Schweiz zeigen. Im Quartil mit dem niedrigsten Einkommen sind es rund 22 Kilometer (davon 58 Prozent mit dem Pkw), im reichsten Einkommensviertel dagegen mehr als 51 Kilometer (62 Prozent mit dem Pkw).64
Deutliche Unterschiede bei den Aufwänden für Mobilität gibt es auch bei der Verteilung nach den höchsten Bildungsabschlüssen. Personen mit Pflichtschulabschluss geben mit knapp zehn Prozent insgesamt am wenigsten ihres Haushaltseinkommens für Mobilität aus. Für den Kauf und die Instandhaltung von Kraftfahrzeugen geben Menschen mit Lehrabschluss besonders viel aus, und zwar 15 Prozent des Haushaltseinkommens. Absolventinnen und Absolventen von Universitäten und Fachhochschulen investieren hingegen mit zwei Prozent ihres Einkommens doppelt so viel in den Öffentlichen Verkehr wie der Durchschnitt.76
Werte als Faktoren der Mobilität
Es gibt aber auch zwischen Personen mit ähnlichem Voraussetzungen große Unterschiede im Mobilitätsverhalten. Einerseits sind Rahmenbedingungen wie der Wohnstandort ein wichtiger Faktor. Der starke Einfluss der guten Erschließung vor allem des Arbeitsweges durch den Öffentlichen Verkehr und die Radinfrastruktur auf die Verkehrsmittelwahl unterstreicht die Wichtigkeit einer nachhaltigen Raumplanung.13 Andererseits spielen gesellschaftliche und kulturelle Wertevorstellung, Beruf oder der Freundes- und Bekanntenkreis eine große Rolle.
Eine ursprünglich aus der Zielgruppenforschung stammende Methode, die versucht Einstellungs- und Verhaltensunterschiede zwischen Personen herauszuarbeiten, ist die Typologie nach Sinus-Milieus.13, a Sinus-Milieus sind Gruppen, die sich in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise ähneln. Die Sinus-Milieus unterscheiden sich zwischen verschiedenen Ländern und berücksichtigen dabei neben Einkommens- und Bildungsgrad auch Grundorientierungen. Für Österreich werden aktuell zehn Sinus-Milieus unterschieden. Ein Beispiel: Angehörige des Sinus-Milieus „Traditionelle“ haben mittlere oder niedrige Einkommen beziehungsweise Bildungsabschlüsse. Diese Gruppe fokussiert besonders auf Sicherheit, Ordnung und Stabilität. In diesem Sinus-Milieu ist „Kostenersparnis“ von besonderer Relevanz.13 Angehörige dieses Milieus können daher über finanzielle Anreize gut erreicht werden. Möchte man etwa erreichen, dass Traditionelle weniger Treibhausgase verursachen, wäre günstiger Öffentlicher Verkehr statt der Pendelpauschale vermutlich eine treffsichere Maßnahme. Die Einteilung von Informationstypen auf Grundlage der Sinus Milieus ermöglicht zielgruppenspezifische Maßnahmen und Kampagnen. Die sogenannte pro:motion Typologie leitet aus den Sinus-Milieus sechs verschiedene Informationstypen ab, die sich nicht nur im Informationsverhalten, sondern auch in ihren Wertehaltungen, den Ansprüchen an Mobilität und im Mobilitätsverhalten unterscheiden. Zusätzlich kann die Bereitschaft, das eigene Mobilitätsverhalten zu ändern, dieser Typologie zugeordnet werden. Die Typologie beginnt bei spontanen Menschen, die Informationen rasch, aber etwas oberflächlich – „on the go“ – aufnehmen, geht über „hoch informierte Nachhaltige“, die sich gerne umfassend informieren bis zu den „digital illiterates“, die kaum digitale Informationen nachfragen und sich sehr stark mit den „Traditionellen“ der klassischen Sinus Milieus überschneiden.41
Auf dieser Basis können zielgerichtete Maßnahmen und Kommunikationsformen ergriffen werden, um den Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel, Gehen und Radfahren zu fördern. Durch die hohe Anpassung an die Zielgruppe sind derartige Maßnahmen effektiver und versprechen eine hohe Änderungsrate hin zu klimaverträglichem Mobilitätsverhalten. Bei der Gruppe der „Spontanen“ sind es beispielsweise kreative und spielerische Ansätze, bei den „hochinformierten Nachhaltigen“ wiederum öko-soziale Argumente, die zu einer Änderung des bevorzugten Verkehrsmittels führen. Veränderte Rahmenbedingungen, die Autofahren ineffizienter werden lassen, sind bei den „Effizienz-Orientierten“ besonders geeignet. Diese Informationstypen können auch nach ihrer Verteilung in urbanen oder ländlichen Räumen zugeordnet werden. Das erleichtert auch darauf abgestimmte Maßnahmen.41
Es lassen sich so auch geschlechtsspezifische Unterschiede im Mobilitätsverhalten analysieren: Frauen verfügen in etwa gleich oft über Fahrräder wie Männer und sie besitzen öfter Zeitkarten für den Öffentlichen Verkehr. Insgesamt sind unter Frauen Formen moderater bewegungsaktiver Mobilität weit verbreitet. Frauen, die täglich zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs sind, finden sich am häufigsten in den mittleren und unteren Einkommensschichten. Sparsamkeit und Freude an körperlicher Bewegung spielen als Motivation eine wichtige Rolle, direkte ökologische Beweggründe sind unter diesen Frauen nachrangig. Bei der Autonutzung unterscheiden sich Frauen deutlich von Männern. Verwenden Männer den Pkw primär für Arbeitswege, halten sich bei Frauen Wege zur Arbeit und zum Einkauf die Waage.65
Als Erwachsene Radfahren lernen
Für viele Frauen ist Radfahren keine Selbstverständlichkeit. Kulturelle Regeln oder mangelnder Zugang zu einem Fahrrad stellen für Frauen aus manchen Herkunftsländern große Barrieren dar, mit dem Rad zu fah-ren oder es zu erlernen. Spezielle Angebote dafür gibt es beispielsweise beim Klimabündnis Oberösterreich unter dem Projekt „Radheldinnen“ und im Zuge der transdisziplinären Forschungsprojekte „MigRad – Migrantinnen erobern das Fahrrad“ und „Frauen in Fahrt“ in Wien. Es stellte sich heraus, dass Vorbilder, gemeinsame Radfahr-Erlebnisse und der Zugang zu einem Fahrrad wichtige Schlüsselstellen sind, um das Radfahren nachhaltig im Alltag zu verankern. Bestandteile der Kurse sind deshalb auch gemeinsame Ausflüge und das Üben der Nutzung von Sharing-Fahrrädern.
Passgenaue Mobilitätsangebote durch Sinus-Milieus
Die Hochschule Biberach in Deutschland liefert ein Beispiel für die Anwendung von Sinus-Milieus bei der Entwicklung eines nachhaltigen Mobilitätskonzepts. Aufbauend auf einer Analyse der Lebensstile der Hochschulmitglieder wurde ein Maßnahmenmix für eine klimaverträgliche Mobilität entwickelt. Zum Beispiel wurde eine hochschuleigene E-Roller-Flotte angeschafft, die besonders für die Gruppe der „Expeditiven“ gedacht ist. Diese wollen zwar klimaverträglich unterwegs sein, Flexibilität und reibungsloses Funktionieren ist ihnen aber wichtiger. Weitere Maßnahmen sind der Ausbau von Wohnmöglichkeiten direkt am Campus und die Einführung von Mitfahrbänken entlang der Hauptkorridore außerhalb der Stadt. Insgesamt konnten so die rund 1.200 Pkw-Parkplätze um 50 Prozent reduziert werden.
Wohnort hat starken Einfluss auf die Verkehrsmittelwahl
Stark beeinflusst wird die Verkehrsmittelwahl unter anderem vom Wohnort. Menschen in peripheren Regionen sind in ihrer Mobilität sehr stark vom Auto abhängig, wie die ÖROK-Erreichbarkeitsanalyse zeigt. Mit dem Pkw können in Österreich 97 Prozent der Bevölkerung das nächste regionale Zentrum innerhalb von 30 Minuten erreichen. In der Hälfte der Bezirke Österreichs sind es 100 Prozent. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichten im Jahr 2016 hingegen nur 72 Prozent der Bevölkerung das nächste regionale Zentrum in weniger als einer halben Stunde. Außerhalb Wiens ist die öffentliche Erreichbarkeit des nächsten regionalen Zentrums in Vorarlberg mit 80 Prozent am höchsten, vor Salzburg mit 74 Prozent und am niedrigsten in Kärnten, wo im Jahr 2016 nur 58 Prozent der Bevölkerung das nächste regionale Zentrum mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen konnten. Werte von nahezu 100 Prozent erreichen neben Wien auch die meisten Landeshauptstädte, auffallend niedrige Werte weisen aber auch viele Umgebungsbezirke der größeren Städte auf. Das Burgenland hat die Besonderheit, dass der Öffentliche Verkehr stark auf die Erreichbarkeit Wiens ausgerichtet ist. Das erleichtert zwar das Pendeln mit öffentlichen Verkehrsmitteln, näher gelegene Zentren sind aber oftmals nur schwer öffentlich erreichbar.48 Das spiegelt sich auch im Motorisierungsgrad wider: Während in Vorarlberg auf 1.000 Personen 477 private Pkw kommen und in Salzburg 471, sind es in Kärnten 581 private Pkw pro 1.000 Personen und im Burgenland 608.74
Es sollten daher nicht weiter Siedlungsstrukturen gefördert werden, die vor allem die Nutzung eines Pkw erfordern.13 Einige Subventionen im Verkehrsbereich sind nicht nur aus ökologischer Sicht kontraproduktiv, sondern auch aus sozialer Sicht: So profitieren vom Pendelpauschale Gutverdienende in höheren Steuerklassen weit stärker, weil es die Steuerbemessungsgrundlage verringert. Von Förderungen für den Öffentlichen Verkehr sowie der Stadt und Region der kurzen Wege profitieren dagegen auch Personen mit niedrigem Einkommen. Konkret bedeutet das beispielsweise: kürzere Taktung von Bussen, gut beleuchtete Haltestellen in dichteren Abständen zum Wohnort, sichere Fußwege und Ausbau sicherer Rad-Infrastruktur.
Wandel durch spielerische Ansätze
Partizipation und Zielgruppenorientierung sind Strategien, die eine Verhaltensänderung zusätzlich unterstützen. Die auf die Werthaltungen abzielenden Milieus und Typologien zeigen, dass es unterschiedlicher Strategien bedarf, um die Vielfalt der Menschen zu erreichen. Darüber hinaus ist die Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern notwendig, um zu einem tatsächlichen Verhaltenswandel zu kommen: Eine entsprechende Beteiligung erhöht die Akzeptanz gegenüber Maßnahmen.29
Ein Ansatz verfolgt die Möglichkeit etwas ausprobieren zu können.29 Das kann auch über spielerische Elemente in üblicherweise nichtspielerischen Tätigkeiten geschehen – die sogenannte Gamification. Aufgaben, Punktevergabe, Vergleiche und Ähnliches können dazu anregen, ein nachhaltigeres Mobilitätsverhalten auszuprobieren – ein etwa bei den Angehörigen des spontanen „on the go“-Typus erfolgversprechender Ansatz. „Beat the street“ ist ein Spiel, bei dem die Teilnehmenden durch Berühren von Lesegeräten mit einer Chipkarte nachweisen, dass sie eine Strecke zu Fuß oder mit dem Rad zurückgelegt haben, Punkte zur Belohnung sammeln und Preise gewinnen. Das Spiel wurde etwa im Jahr 2019 im Londoner Bezirk Hounslow ausprobiert. Mehr als 28.000 Menschen nahmen teil und legten in sechs Wochen mehr als 155.000 Kilometer zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurück. Obwohl nur zehn Prozent der Bevölkerung teilgenommen hatten, ging der Autoverkehr während der morgendlichen und nachmittäglichen Rushhour deutlich zurück. Nach dem Spielende gaben 75 Prozent der Befragten an, wöchentlich mindestens 150 Minuten moderate körperliche Aktivität zu erreichen. Vor Beginn des Versuchs waren es nur 62 Prozent gewesen.28
Ein heimisches Beispiel für erfolgreiche Gamification ist „Österreich radelt“. Dabei können Einzelpersonen, Firmen, Vereine und Schulen ihre geradelten Kilometer eintragen und Preise gewinnen.18 Im Sommerhalbjahr des Jahres 2022 legten mehr als 36.000 Teilnehmende fast 30 Millionen Kilometer mit dem Fahrrad zurück und sparten gegenüber Autofahrten mehr als 5.000 Tonnen Treibhausgase ein.18
Nachhaltige Mobilität gerecht gestalten
- Nachhaltige Mobilität ist kostengünstiger. Verfügbarkeit von Öffentlichem Verkehr entlastet die Haushalte finanziell und gewährleistet Teilhabe.
- Subventionen wie das Pendelpauschale sind sozial ungerecht und auch aus ökologischer Perspektive zu reformieren.
- Wertehaltungen berücksichtigen und zielgruppenspezifische Maßnahmen setzen, um die Transformation hin zu einem klimaverträglichen Verkehrssystem voranzutreiben.