Verkehrssystem muss für alle Menschen funktionieren

Unser Mobilitätssystem schließt Menschen mit motorischen, sensorischen, kognitiven oder psychischen Behinderungen ganz oder teilweise aus. Das verwehrt diesen Menschen viele Möglichkeiten einer selbstbestimmten Lebensgestaltung. Design for All sorgt für Barrierefreiheit.

Etwa 1,3 Millionen über 15-jährige Personen waren laut einer Erhebung in Österreich im Jahr 2015 von dauerhaften, körperlichen, psychischen und/oder kognitiven Beeinträchtigungen betroffen. Eine Million Menschen hat Probleme mit der Beweglichkeit, davon 271.000 schwerwiegende, die bestenfalls unter großen Schwierigkeiten 500 Meter auf ebener Strecke gehen oder zwölf Stufen steigen können. Rund 40.000 Personen sind auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen. Von dauerhaften Beeinträchtigungen bei der Bewegung sind 29 Prozent der Frauen und 24 Prozent der Männer ab 60 Jahren betroffen.7, 24 216.000 Menschen haben keine oder nur eine eingeschränkte Sehfähigkeit, 157.000 können nicht oder nur schlecht hören. Von nervlichen oder psychischen Problemen waren 270.000 Personen betroffen, 60.000 von geistigen Problemen oder Lernproblemen. 26 Prozent der Menschen mit Behinderungen nennen den Öffentlichen Verkehr als einen Bereich, in dem sie mit Benachteiligungen konfrontiert sind. Es gibt aber auch beim Gehen und Radfahren zahlreiche Behinderungen.7

Zahlreiche Hürden erschweren die Mobilität mit Behinderung

Voraussetzung für ein nachhaltiges, für alle nutzbares Mobilitätssystem, ist Barrierefreiheit. Sie ist erreicht, wenn Funktionalität für alle gegeben ist und Verkehrsmittel ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.9 Planungsfehler behindern jedoch Menschen mit Behinderung in ihrer Mobilität. Gehsteige und Radwege sind oft zu schmal, um sie problem- und gefahrlos mit Rollator, Rollstuhl oder Handbike zu benutzen. Fahrzeuge, Zeitungsständer oder Wahlplakate auf Gehsteigen oder an Masten erschweren sowohl Menschen mit Problemen bei der Beweglichkeit als auch sehbehinderten Menschen das Vorankommen. Busbuchten können teilweise nicht gut angefahren werden und Abstände zum Bordstein erschweren das Ein- und Aussteigen.44 Kopfsteinkleinpflaster behindert Personen mit Rollator oder Rollstuhl.49

Die Bedürfnisse von Menschen mit verschiedenen Behinderungen an Mobilität werden aufgezählt. Für gehörlose Menschen sind Warnungen mittels optischer Signale wichtig. Menschen mit Mehrfachbehinderungen brauchen die Beachtung des Mehr-Sinne-Prinzips.
Auf Bedürfnisse von Menschen mit körperlichen und psychischen Behinderungen wird vielerorts zu wenig Rücksicht genommen.

Barrierefreiheit erfüllt vielfältige Bedürfnisse

Viele Websites und Smartphone-Apps für den Öffentlichen Verkehr sind für Personen mit Sehbehinderungen und blinde Menschen nicht nutzbar.50 Bei barrierefreier Gestaltung können Apps etwa das Lesen von Fahrplänen, Infotafeln und Straßenbezeichnungen durch Vergrößerungen oder Sprachausgabe erleichtern.16 Generell benötigen Menschen mit Sehbehinderung gut lesbare Informationen, gute Beleuchtung, kontrastreiche Raumelemente, keine spiegelnden oder reflektierenden Wände und Böden und eine gut sichtbare Kennzeichnung von Hindernissen.72 Pflanzentröge oder ähnliche Hindernisse, die sich nicht ausreichend vom Boden abheben, können zu Stolperfallen werden.49 Blinde Menschen, die über kein Restsehvermögen verfügen, orientieren sich mittels Gehör und Tastsinn. Für sie sind daher tastbare Orientierungselemente und Beschriftungen wichtig, gut hörbare Ampelsignale und Durchsagen sowie die bauliche Absicherung von Gefahrenstellen. Eine besondere Herausforderung sowohl für blinde als auch gehörlose Menschen stellen Kreisverkehre dar. Diese haben in der Regel keine Ampelanlagen für eine gefahrlose Querung. Verschärfend wirkt hier, dass eine Orientierung per Gehör unmöglich ist. Der sich im Kreis bewegende Verkehr liefert keine hörbaren Hinweise, ob und wann ein Fahrzeug abbiegt.15 Gehörlose und schwerhörige Menschen benötigen im Öffentlichen Verkehr visuelle Informationen auf Bildschirmen, sowohl auf den Bahnsteigen als auch in den Garnituren. Verspätungen, Bahnsteigänderungen oder Probleme mit dem Anschluss sollten nicht nur per Lautsprecher durchgesagt werden.68 Ein positives Beispiel ist in diesem Zusammenhang eine Smartphone-App der Wiener Linien, die sich seit September 2022 im öffentlichen Testbetrieb befindet. Lautsprecherdurchsagen werden dabei für Gehörlose in Echtzeit in Gebärdensprache übersetzt.84 Menschen mit Lernschwächen oder psychischen Beeinträchtigungen erleben schon vor Fahrtbeginn Barrieren: 90 Prozent der Menschen mit Lernschwierigkeiten besitzen kein Smart-
phone, das für viele Mobilitätslösungen Voraussetzung ist. Sie benötigen niederschwellige, einfache, leicht verständliche Lösungen.49 Das Überqueren von Straßen ohne Zebrastreifen oder Ampelanlagen ist für viele ein Problem. Für Menschen mit Autismus ist es oft schwierig, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Vollbesetzte Züge und Busse sind eine sensorische Herausforderung. Menschen mit diesen Beeinträchtigungen fahren oft nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn ruhige Bereiche fehlen und sie Gedränge nicht ausweichen können. Wenn Menschen ohne sichtbare Beeinträchtigung einen Sitzplatz beanspruchen, fehlt es oft an Akzeptanz unter den anderen Fahrgästen.49

Lautsprecherdurchsagen in Gebärdensprache am Smartphone

Als weltweit erstes öffentliches Verkehrsunternehmen haben die Wiener Linien den Avatar Iris entwickelt, der Betriebsinformationen und Störungsmeldungen in Gebärdensprache übersetzt. Ein Symbol in der App zeigt an, dass eine Übersetzung verfügbar ist. In einem Gebärdenvideo übersetzt der Avatar 3D-animiert die Meldung. So können Echtzeit-    Informationen für die rund 10.000 gehörlosen Menschen in Österreich einfacher zugänglich gemacht werden. Ihre Muttersprache ist die österreichische Gebärdensprache. Etwa 80 Prozent tun sich deshalb schwer beim Lesen von komplexen Texten auf Deutsch. Die Übersetzung in Gebärdensprache ermöglicht den barrierefreien Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln.

Demenz als zunehmende Herausforderung für die Gewährleistung von Mobilität

Aktuellen Schätzungen zufolge leben in Österreich 115.000 bis 130.000 Menschen mit Demenz. Durch die Alterung der Bevölkerung wird sich diese Anzahl bis zum Jahr 2050 verdoppeln.32 Am Beginn einer Demenz können die betroffenen Personen oft noch sicher Auto fahren. Das ändert sich aber im Verlauf der Krankheit.52 Menschen mit Demenz brauchen Unterstützung, um den richtigen Bus oder den richtigen Zug zu finden oder an der richtigen Haltestelle auszusteigen. Sie vergessen oft ihre Fahrkarte oder können sich nicht erinnern, wo sie diese eingesteckt haben. Die Betroffenen können trotzdem selbständig mit Bus oder Bahn unterwegs sein, wenn das Personal auf Anzeichen der Demenz achtet und Hilfe anbietet. Dafür benötigt es jedoch Bewusstseinsbildung und Schulungen in Verkehrsbetrieben.
Prinzipiell finden sich Menschen mit Demenz in einfach zu „lesenden“ und reizarmen Umgebungen, die nicht mit vielen Straßenschildern überladen sind, leichter zurecht. Sie orientieren sich vor allem an markanten Punkten und profitieren von einer klar strukturierten Umgebung und verkehrsberuhigten Gehverbindungen.79 Als Gehende sind Demenzkranke besonders Gefahren ausgesetzt, weil sie manchmal plötzlich die Fahrbahn betreten und die Geschwindigkeit der Autos nicht richtig einschätzen.3 Mehr Fußgängerzonen, Begegnungszonen und ein Tempolimit von 30 Stundenkilometern innerorts würden hier die Gefahr von schweren oder tödlichen Verletzungen deutlich verringern.

Barrierefreiheit als Norm: Design for All in Breda

Die niederländische Stadt Breda verfolgt das Prinzip Design for All: Barrierefreiheit wurde so in der Stadt zur Norm. Bei der Planung neuer Projekte werden Menschen mit Behinderung aktiv in jeder Phase eingebunden. Die Zugänglichkeit von über 800 Geschäften und Gaststätten wurde überprüft und wenn nötig verbessert. Der neue Bahnhof ist vollständig barrierefrei gestaltet. Menschen mit Behinderungen stehen barrierefreie Kleinbusse und elektrische Rollstühle zur Verfügung, um ihnen die Fortbewegung in der Stadt zu erleichtern. Alle Busse und Bus- haltestellen sind stufenlos zugänglich und auch digitale Informationen und Navigations-Apps für Smartphones sind barrierefrei gestaltet. Für ihr Engagement hat die Stadt den Access City Award der EU gewonnen.

Für Personen mit starken Mobilitätseinschränkungen, Personen mit kleinem Kind und älteren Personen ist die Straßenüberquerung innerhalb einer Ampelphase nicht machbar. Unsicher ist es auch für Kinder und langsam gehende Erwachsene.
Ampelschaltungen orientieren sich an Durchschnittswerten. Mobilität für alle bedeutet auch, allen Menschen eine sichere Straßenquerung zu ermöglichen.

Design for All bietet allen Vorteile

Voraussetzung für ein nachhaltiges Mobilitätssystem, das physische, sensorische und psychische Beeinträchtigungen berücksichtigt, ist Barrierefreiheit.49 Sie ist erreicht, wenn Funktionalität für alle gegeben ist – und nicht nur für Menschen mit bestimmten Einschränkungen.9 Denn von Design for All – also inklusivem und barrierefreiem Design – profitieren nicht nur Menschen mit Einschränkungen, sondern alle Nutzerinnen und Nutzer des öffentlichen Raums. Als allgemeine Faustregel gilt: Barrierefreiheit ist essenziell für zehn Prozent, notwendig für 40 Prozent und komfortabel für 100 Prozent. Eine Absenkung des Gehsteigs im Kreuzungsbereich auf Fahrbahnhöhe ist für viele Personen im Rollstuhl oder mit Rollatoren maßgeblich. Müttern mit Kinderwagen sowie Lieferanten mit großen Lasten wird das Vorankommen erleichtert und für Reisende mit Rollkoffern erhöht sich durch die Absenkung die Bequemlichkeit.
Design for All umfasst die Gestaltung des Öffentlichen Verkehrs ebenso wie die des öffentlichen Raums: Ampeln mit akustischen und taktilen Hilfen oder Behindertenparkplätze sind ebenso wichtig wie geeignete Informations- und Leitsysteme. Städtebauliche, kommunikative, intellektuelle und soziale Barrieren sind zu beseitigen.8 Gut ausgebaute Radwege können auch Menschen mit eingeschränkter Bewegung nutzen. In den Niederlanden legen Menschen mit körperlichen Behinderungen 16 Prozent aller Wege mit Dreirädern, Handbikes, Elektro-Mobilen und ähnlichen Fahrzeugen zurück, weil die Radwege entsprechend breit und sicher gestaltet sind.17 Auch ältere Menschen nutzen dort das Fahrrad besonders häufig, der Anteil der Wege bei den Über-65-Jährigen beträgt rund 20 Prozent.58

Fortschritte in Städten sichtbar

Während im städtischen Nahverkehr die Barrierefreiheit bereits besser wird, bleiben Österreichs ländliche Regionen zurück.10 In Wien etwa sind bereits 73 Prozent aller Ampelanlagen mit Zusatzeinrichtungen für sehbehinderte und blinde Menschen ausgestattet. Alle Busse sind barrierefrei, ab dem Jahr 2026 sollen nur noch barrierefreie Straßenbahnen im Einsatz sein.10 In den U-Bahnstationen gibt es flächendeckend Aufzüge und/oder Rampen sowie Blindenleitsysteme.70 Alle neu errichteten Bus- und Straßenbahnstationen sind barrierefrei. Ausreichend breite hindernisfreie Flächen vor den Türen erlauben in jeder Station den Einsatz der Klapprampen für Rollstühle von allen eingesetzten Fahrzeugtypen. Außerdem gibt es ein taktiles Orientierungssystem, das blinde Menschen direkt zu einem Wartebereich vor der ersten Fahrzeugtür leitet. Dieser Regelplan für die barrierefreie Gestaltung der Stationen wurde in Zusammenarbeit mit Behindertenverbänden entwickelt.83

Aufholbedarf am Land vorhanden

Am Land fehlt vielfach der barrierefreie Zugang zum Öffentlichen Verkehr und die Nutzung vieler regionaler Buslinien ist mit Rollstühlen nicht möglich.49 Das liegt auch darin begründet, dass viele Anforderungen an barrierefreie Linienfahrzeuge rechtlich nicht oder nur teilweise verbindlich sind – etwa, dass bei Linienbussen mindestens eine für Rollstuhlfahrende benutzbare Tür vorhanden sein soll.23 Um dieses Stadt-Land-Gefälle zu verringern, sollten Bund, Länder, Städte und Gemeinden ausschließlich barrierefreie Verkehrsdienstleistungen und Verkehrslösungen in Auftrag geben.49

Barrierefreie Mobilität für alle

  • Umfassende Barrierefreiheit bei der Bestellung von Verkehrsdienstleistungen vorschreiben.

  • Prinzipien von Design for All in der Planung von Verkehrsinfrastruktur und Mobilitätsangeboten berücksichtigen.

  • Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen frühzeitig in die Planungsprozesse einbeziehen.