Vielfältige Ansprüche an die Mobilität
Mobilität ist Teil des modernen Zusammenlebens. Vielfältige Ansprüche müssen in der Verkehrsplanung berücksichtigt werden. Nur so schaffen wir tatsächlich inklusive Mobilität. Von einem inklusiven Verkehrssystem profitieren letztlich alle.
Die Verkehrs- und Stadtplanung der vergangenen Jahrzehnte orientiert sich stark am Auto als zentralem Fortbewegungsmittel. Das war nicht immer so. Beim Blick auf ältere Stadtpläne oder beim Spaziergang durch eine Altstadt ist schnell zu merken, dass bei der Errichtung eine andere Vorstellung von Geschwindigkeit vorherrschte.37 Später konzentrierte sich die Planung stark auf das Fortkommen mit dem Auto. Davon dominierte Städte und Regionen erlauben meist wenig andere Mobilitätsformen. Denn Automobilität ist von Geschwindigkeit und Effizienzdenken getragen, die Diversität und Bedürfnisse abseits der Norm außer Acht lassen.5
Verkehrsplanung muss sich entwickeln
Ein langsames Umdenken in Richtung Verkehrsberuhigung ist erkennbar. Dabei geht es nicht nur um die Vermeidung von Verkehr, sondern vielmehr um die Integration verschiedener Bedürfnisse. Beispiele sind weitgehend autofreie Stadtviertel wie die „Superblocks”, die als „Supergrätzl“ derzeit in Ansätzen auch in Wien Favoriten getestet werden.71 Oder die sogenannte 15-Minuten-Stadt, in denen Orte des täglichen Bedarfs fußläufig und per Fahrrad gut erreichbar sind.46 Bei beiden Konzepten wird mit verkehrsberuhigenden Elementen versucht, die Bedürfnisse der Menschen, eine nachhaltige Lebensweise und moderne Stadtplanung zu vereinen.
Inklusion erleichtert allen die Mobilität
Bei der Integration verschiedener Bedürfnisse für die Verkehrswende sind insbesondere fünf Ebenen zu betrachten: soziale, technische, politische, ökologische und ökonomische Integration.63 Was hier bislang noch weniger beachtet wird, ist ein Fokus auf Menschen und das Ziel, das Zusammenleben als Gesamtgesellschaft für alle besser zu gestalten. Alter und Behinderung sind Kategorien, deren Auswirkungen auf die Mobilität relativ leicht nachvollziehbar sind. Außerdem können auch Geschlechterrollen, sexuelle Orientierung, Religion und kulturelle Herkunft entscheidende Rollen dabei spielen, ob ein Verkehrssystem für eine Person geeignet ist.1
Die Planung für die Mobilität der Zukunft sollte daher zwei grundlegende Ziele verfolgen: Sie muss – natürlich – klimagerecht sein, aber sich auch an diversen Bedürfnissen orientieren und folglich Menschen ein- anstatt ausschließen. Letztendlich erleichtert Inklusion so allen Verkehrsteilnehmenden die Mobilität.
Blinde Flecken beseitigen: von der Norm zur Realität
In einer autozentrierten Verkehrsplanung und Verkehrspolitik wird oft unbewusst eine Norm vorausgesetzt, für die geplant und entwickelt wird. Es sind Vollzeit arbeitende gesunde Männer, die selten Versorgungsmobilität übernehmen und im besten Fall im urbanen und suburbanen Raum leben.67 Dieses Bild wird in der Umsetzung
von Standards und Planungstools und geltenden Rechtsvorschriften reproduziert. Dadurch entstehen aber blinde Flecken, durch die Verkehrsteilnehmende benachteiligt oder gar gefährdet werden. Beispielsweise gab es lange keine Crashtest-Dummies mit weiblichen Proportionen. Frauen wurden als kleinere Männer verstanden, was deren sich unterscheidende Körpermaße nicht einbezogen hat. Dadurch ist die Verletzungsgefahr durch Gurte und die Gefahr eines Schleudertraumas bei Frauen erhöht.45
Oft wird argumentiert, dass vor allem für das geplant wird, was man kennt.21 In der EU waren im Jahr 2018 nur 14 Prozent der Beschäftigten im Landtransport Frauen33 und nur 22 Prozent der Beschäftigten im gesamten Mobilitätsbereich.19 Weitere Gesellschaftsgruppen sind ebenfalls nicht ausreichend repräsentiert. Jedoch schafft erst Repräsentation ausreichende Sichtbarkeit von Bedarf. Ohne Repräsentation bleiben in der Planung blinde Flecken.
In Folge sind die Daten, die für die Evaluierung von Mobilitätsverhalten und neuen Services verwendet werden, häufig verzerrt: Gender Data Gap51 oder Diversity Data Gap42 bezeichnet das Fehlen von Daten zur Mobilität von Frauen oder Gruppen, die nicht der Mehrheitsbevölkerung entsprechen. Es fehlt also an Wissen bei den Personen, die mitgestalten, und an Daten über Personen, die nicht der Norm entsprechen. Die Art, wie für Mobilität geplant und entwickelt wird, sollte daher überdacht werden.
Nicht jeder und jede kann ein Auto lenken
In Österreich ist rund ein Drittel der Menschen vom selbständigen Autofahren ausgeschlossen. 15 Prozent sind zu jung, um selbst zu fahren. Andere sind aufgrund ihres Alters nicht mehr in der Lage zu fahren oder können nur noch unter eingeschränkten Bedingungen fahren.73
Von den über 15-jährigen in Österreich haben rund eine Million Personen, das sind 14 Prozent der Gesamtbevölkerung, eine Mobilitätseinschränkung, wegen der sie nicht alle Wege selbst erledigen können. Entlastet werden all diese Gruppen in erster Linie durch Frauen. Denn diese übernehmen im Rahmen der Pflege überdurchschnittlich oft zusätzliche Wege von Kindern, älteren und anderen in ihrer Mobilität eingeschränkten Familienmitgliedern.80
Öffentlicher Verkehr ist derzeit nur bedingt für komplexe Wegeketten geeignet
Laut aktuellen Zahlen gibt es in Österreich rund 2,3 Millionen Personen, die zu ihrem Arbeitsplatz pendeln, also in einem anderen Ort arbeiten als sie wohnen. 72 Prozent der Pendelnden nutzen das Auto, um in die Arbeit zu gelangen. In ländlichen Gebieten braucht es vielfältigere Mobilitätsangebote. Zersiedelung, fehlende Dorf- und Stadtkernkonzepte und weitere Herausforderungen in der ruralen Verkehrsplanung machen es für Personen abseits der Mehrheitsgesellschaft schwerer, dort zu leben. Je autozentrierter die Verkehrsplanung, umso stärker belasten steigende Treibstoffpreise die Bevölkerung. Besonders für armutsbetroffene Menschen haben mangelnde Verkehrsangebote negative Folgen. Das Fehlen von Alternativen erzeugt Ungleichheit und Doppelbelastungen.82
In urbanen Gebieten gibt es zwar oft eine bessere Infrastruktur für den Öffentlichen Verkehr, aber auch hier fehlt oft die Berücksichtigung diverser Wegzwecke. In den Städten ist der Öffentliche Verkehr meist sternförmig organisiert, also in die Ballungszentren und wieder hinaus. Komplexere Wegeketten, etwa zur Versorgung von Kindern oder Angehörigen, die nicht direkt auf dem Arbeitsweg liegen, werden von dieser Struktur nicht berücksichtigt. So sind öffentliche Verkehrsmittel abseits der Hauptrouten oft nicht verfügbar oder benötigen überdurchschnittlich viel Zeit. Die Wegzeit ist jedoch ein entscheidender Faktor für die Verkehrsmittelwahl. Mehr als die Hälfte der Autopendelnden in Österreich würde bei Zeitersparnis vom Auto auf öffentliche Verkehrsmittel wechseln.47 So eine Zeitersparnis ergibt sich jedoch für viele nur, wenn der Öffentliche Verkehr auch bei komplexen Wegeketten sowohl verfügbar als auch attraktiv ist.
Öffentlicher Verkehr als Schlüssel zu Selbständigkeit
Öffentlicher Verkehr spielt für viele Personen eine besondere Rolle für ihre Selbständigkeit. Bedarfsgerechter Öffentlicher Verkehr ist daher maßgeblich, um möglichst vielen Menschen ein eigenständiges Leben zu ermöglichen. Trotz Verbesserungen bei der Barrierefreiheit geben 26 Prozent der Personen mit permanenter Mobilitätseinschränkung an, Probleme bei der Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln zu haben.11 In Hinsicht auf die Bevölkerungsentwicklung in den nächsten Jahrzehnten wird der Bedarf nach barrierefreien Angeboten zunehmen. Im steigenden Alter besitzen oder nutzen Personen Autos weniger, weil sie etwa schwierige Lichtverhältnisse oder zunehmenden Verkehr vermehrt als herausfordernd empfinden. Die täglich zurückgelegten Distanzen werden kürzer. Für ältere Menschen ist daher von großer Bedeutung, dass der Öffentliche Verkehr für sie leistbar, sicher und zugänglich ist. Freundliches und hilfreiches Personal hebt ebenfalls die Akzeptanz.66
Der VCÖ setzt sich als gemeinnützige Organisation für eine ökologisch verträgliche und sozial gerechte Mobilität mit Zukunft ein. Der Einsatz des VCÖ ist nur Dank der Unterstützung durch Spenden möglich - jetzt spenden
Gute Rad-Infrastruktur ermöglicht körperlich beeinträchtigten Menschen selbständige Mobilität
Dank ausreichend breit und sicher gebauter Radwege können in den Niederlanden auch ältere und gehbeeinträchtigte Menschen selbständig mobil sein. Die Regierung fördert den Kauf von speziell angepassten Fahrzeugen, wie zum Beispiel Dreiräder, Tandems, Handbikes oder Scooter-Fahrräder, oft auch mit elektrischer Unterstützung. Räder wie diese gehören in den Niederlanden ganz selbstverständlich zum Stadtbild. 16 Prozent aller Wege von körperlich beeinträchtigten Menschen werden auf pedalbetriebenen Fahrzeugen zurückgelegt. Das ermöglicht vielen Menschen, die sonst oft auf die Unterstützung anderer angewiesen sind, selbständig unterwegs sein zu können und die Freude am Radfahren erleben zu können.
CHANGE! Mobilitätswende beginnt im Kopf
Mobilität ist vor allem auch Gewohnheit. Das österreichische Forschungsprojekt CHANGE! erkundet, wie die Mobilitätswende im Kopf gelingen kann: auf Ebene der Nutzenden, des Verkehrssystems und der Politik. Das Aufbrechen dieser Muster ist eine große Herausforderung. Durch Planspiele und Mobilitätslabore können Experimentierräume aufgemacht werden, in denen innovative Mobilitätslösungen entwickelt und getestet werden können. Umweltverträgliches Verhalten setzt sich dabei aber nicht automatisch durch. Wichtig sind ergänzende Anreize und Steuerungsmaßnahmen. Damit das möglich ist, braucht es auch ein Umdenken der Verantwortlichen in Politik und Planung. Ein neuer Werterahmen in der Mobilität stellt Gehen, Radfahren und Öffentlichen Verkehr an die erste Stelle.
Mehr Sicherheitsgefühl im öffentlichen Raum
Im Jahr 2021 meldeten Betroffene in Österreich 273 Fälle von – teils auch gewalttätigem – Rassismus im Öffentlichen Raum, die Dunkelziffer ist jedoch wesentlich höher. Nur im Internet kommt es zu noch mehr rassistischen Übergriffen.85 In öffentlichen Verkehrsmitteln als Teil des öffentlichen Raums, geht Rassismus dabei nicht nur von anderen Fahrgästen, sondern in Einzelfällen auch vom Personal von Verkehrsbetrieben aus.85 Migrantinnen und Migranten, die es mit Hass zu tun bekommen haben, aber etwa auch Personen aus der LGBTIQ-Community, entwickeln deshalb oft Strategien, wie sie konfrontativen Situationen im öffentlichen Raum aus dem Weg gehen können.34, 20 So eine Strategie kann etwa den Verzicht auf die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel beinhalten. Diskriminierungserfahrungen sollten daher bei der Mobilitätsforschung und Verkehrsplanung mitbedacht werden.39 Erste Mobilitätsunternehmen haben in einigen Fällen bereits Diversity Management in ihre Abläufe aufgenommen und versuchen bewusst ihre Fahrgäste vor Hass und Diskriminierung zu schützen.
Design for All fördert Demokratisierung, Partizipation und Inklusion in der Mobilität
Design for All ist ein Ansatz, um auf die komplexen Bedürfnisse verschiedenster Gruppen einzugehen. Er orientiert sich dabei an sozialer Inklusion und richtet sich an Planende und Ausführende. Das Ziel ist, dass alles für jeden in der Gesellschaft zugänglich und bequem nutzbar ist.14 Bei Design for All geht es vor allem um Chancengleichheit für alle und andere ethische Fragen. Im Fokus stehen Partizipation und Teilhabe, die Weiterentwicklung des Mobilitätssystems soll so auch demokratisiert werden. So gibt es Ansätze aus der Innovationsforschung, die bereits im Entwicklungsprozess verschiedene Akteurinnen und Akteure einbeziehen wollen. Auf lokaler und regionaler Ebene gibt es viele Beispiele der Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern wie die städtischen und regionalen Mobilitätslabore.43 Die Europäische Union fördert solche Versuche, Akteursgruppen aus Industrie, Wissenschaft, öffentlichem Sektor und der Zivilgesellschaft in den Innovationsprozess zu involvieren, damit auch Menschen, die nicht der planerischen Norm entsprechen, in die Entwicklung von neuen Mobilitätsangeboten und von Mobilitätsguidelines einbezogen werden.55
Gemeinsam inklusive Mobilität schaffen
Die Berücksichtigung vielfältiger Ansprüche an die Mobilität schafft Chancengleichheit und bringt am Ende allen etwas. Mobilitätsplanung und Mobilitätsgestaltung sollten daher künftig inklusiver ablaufen und die in der Gesellschaft vorhandene Vielfalt widerspiegeln. Als erster Schritt ist Planenden bewusstzumachen, dass es unterschiedliche Ansprüche an die Mobilität der Zukunft gibt und auch bereits etablierte Methoden, um verschiedene Gruppen in Erneuerungsprozesse einzubeziehen. Probleme wie der Gender Gap im Transportsektor, Gender and Diversity Data Gaps und strukturelle Mechanismen der Diskriminierung müssen sensibel betrachtet werden. Gemeinsam mit den betroffenen Gruppen ist an Lösungen zu arbeiten. Neue inklusive beziehungsweise partizipative Methoden können bei der Umsetzung und Umgestaltung helfen.
Vielfältige Ansprüche berücksichtigen
- Ein für alle Menschen funktionales Mobilitätssystem kann nur erreicht werden, wenn die vielfältigen Ansprüche in der Verkehrs- und Angebotsplanung berücksichtigt werden.
- Bedarfsorientierte Mobilitätsangebote ermöglichen Menschen ein eigenständiges Leben und reduzieren die Abhängigkeit vom Auto.
- Betroffene Personengruppen bei der Angebotsplanung frühzeitig einbinden, um strukturelle Diskriminierung zu vermeiden.