Städte werden Orte der Begegnung

Foto: Beatrice Devénes

Immer mehr Städte geben ihren Bewohnerinnen und Bewohnern den Raum zurück.
Aus Straßen und Parkplätzen werden Begegnungszonen und Spielorte. Bern hat eine Vorreiterrolle übernommen.

Eine Stadt ist lebenswert, wenn sie das menschliche Maß respektiert, sagt Jan Gehl, Architekt und Stadtplaner, der maßgeblich zur Stadtentwicklung Kopenhagens beigetragen hat. Das menschliche Maß bestimmt in zukunftsfähigen Städten nicht der Tacho, sondern das Tempo der Gehenden und Radelnden im konfliktfrei geteilten öffentlichen Raum. Oslo, Gent, Birmingham, sogar Paris wollen Kopenhagen werden. Bern wiederum ist die Stadt der Begegnungszonen. Pro Jahr werden etwa zehn neue geschaffen. 100 solcher Zonen hat die 143.000-Menschen-Stadt bereits. Meist sind es kleine, schmale Straßen in Wohnquartieren. Sie sind durch grüne Punkte, Streifen oder Fußabdrucke als Begegnungszonen erkennbar. Kinder in diesen Quartieren wissen: Hier darf ich spielen. „Die Begegnungszonen sind eines der großen Erfolgsrezepte zur Steigerung der Wohn- und Lebensqualität unserer Stadt. Sie werden von vielen Menschen als erweitertes Wohnzimmer gesehen“, fasst der städtische Verkehrsplaner Karl Vogel die Erfahrung mit diesen Begegnungszonen zusammen.

Planen bei Straßensitzungen

Neue Begegnungszonen werden mit Bürgerinnen und Bürgern bei Straßensitzungen besprochen. Karl Vogel: „Wir bringen einen ersten Vorschlag mit Varianten in das betreffende Viertel, zeigen die Pläne an Stellwänden auf der Straße. Die Bewohnerinnen und Bewohner diskutieren mit uns, bringen Vorschläge ein.“ Fast alle der Begegnungszonen seien auf Wunsch der Bevölkerung entstanden. In der Altstadt ging die Initiative von Geschäftsleuten aus, die sich bessere Shopping- und Aufenthaltsqualität im Zentrum wünschten, die durch die Temporeduktion auch erreicht wurde. Bern will weiteren öffentlichen Raum für Gehende und Radfahrende schaffen. Bis zum Jahr 2035 sollen 8.500 Parkplätze, das ist die Hälfte der öffentlichen Parkplätze, aufgehoben werden. Aktuell erarbeitet die Verkehrsplanung der Stadt ein Programm für die Transformation der ersten rund 1.000 Stellplätze. Es sind dies Parkplätze, die nicht mehr der Norm entsprechen, die an Engstellen, halb auf Gehsteigen angelegt sind. Durch kluge Planung müsse nun Mehrwert geschaffen werden, sagt Vogel. „Erstens wollen wir ja klimaneutral werden. Und zudem möchten wir die Attraktivität des öffentlichen Raumes steigern. Beispielsweise durch Begegnungszonen, die auch Spielorte sind. Kinder sollen vor den Häusern spielen können – wie früher.“ 57 Prozent der Haushalte in Bern besitzen kein Auto. Die Entwicklung gehe ganz klar in Richtung flächeneffizienter Mobilität, sagt Vogel und meint damit Öffentlichen Verkehr, Radfahren und Gehen. Seine Vision: „Ich sehe schöne Zeiten für Städte: Viel Grün und Wasser. Plätze mit Sitzgelegenheiten ohne Konsumzwang. Ein Radfahrnetz, das eine soziale Komponente bekommt. Breite Wege für Radfahrende, wo begegnen möglich ist ohne zu rasen, sich Zeit zu nehmen für einen Plausch zwischen Radfahrenden.“ Das Ziel von Gemeinderätin Ursula Wyss (SP), der zuständigen Verkehrsdirektorin in Bern, ist eine „lebendige, vielfältige Stadt, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert“. Dazu gehört auch die Gestaltung und Nutzung des öffentlichen Raums.

Gut gehen in die Schule

Begegnungszonen bewähren sich auch in Österreichs Städten. Beispielsweise in Bregenz, wo sich im Zentrum Fuß-, Rad- und Autoverkehr den Straßenraum friedlich teilen. Der Kornmarkt, zentraler Platz in der Vorarlberger Landeshauptstadt, ist seit dem Jahr 2013 Fußgängerzone. Niemand wünscht sich die 46 Parkplätze zurück. Die angrenzende Begegnungszone, wie der Kornmarkt mit gelbem Belag gestaltet, funktioniert trotz hoher Frequenz an Fußgängerinnen und Fußgängern sowie Radfahrenden konfliktfrei. Neuland schuf die Bregenzer Stadtplanung mit dem Gut-Geh-Raum vor dem Schulzentrum Schendlingen. Die Zufahrtstraße gehört tagsüber ganz jenen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad kommen. Anrainerinnen und Anrainer wurden vom Elterntaxi-Verkehr erlöst, die meisten der 600 Kinder finden es mittlerweile uncool, chauffiert zu werden. Martina Kremmel, Leiterin der Dienststelle Stadtplanung und Mobilität: „Die Verkehrsproblematik vor der Schule wurde durch den Gut-Geh- Raum massiv entschärft. Das Konzept funktioniert gut.“ Der GutGeh-Raum erhielt bereits mehrere Preise, das Interesse anderer Städte an der Bregenzer Innovation ist groß. Das Bregenzer Beispiel könnte Schule machen.

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Menschengerechtes Verkehrssystem heißt: Tempo 30 innerorts zum Standard machen

Im Jahr 1992 war die Stadt Graz mit der Umsetzung von flächendeckendem Tempo 30 mit Ausnahme der Hauptstraßen internationale Vorreiterin. Zahlreiche Städte in Österreich, etwa Dornbirn, Leoben und Mödling sowie international, wie Grenoble, Helsinki, Lille, Zürich oder Barcelona sind dem Beispiel gefolgt. Zuletzt setzte Brüssel zu Beginn des Jahres 2021 Tempo 30 im verbauten Gebiet als Standard, Tempo 50 wurde zur beschilderten Ausnahme. Im Jahr 2020 wurde in den Niederlanden im Parlament beschlossen, flächendeckend Tempo 30 einführen zu wollen. Seit 11. Mai 2021 ist dies in Spanien als erstem EU-Staat Realität, landesweit gilt Tempo 30 im Ortsgebiet auf Straßen mit einer Kfz-Fahrbahn je Richtung, Tempo 20 auf Straßen mit nur einer Fahrbahn. In Österreich wird derzeit an einer Reform der Straßenverkehrsordnung (StVO) gearbeitet. Es lässt sich mit Hinblick auf die lokale Lebensqualität sowie Verkehrssicherheit kaum begründen, warum Österreich dem spanischen Beispiel nicht folgen sollte.

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Grafik: VCÖ 2021

Mobilitätsinfrastruktur neu denken und neu nutzen

Den unerwünschten Auswirkungen des Autoverkehrs ist durch Einzelmaßnahmen nicht beizukommen. Es braucht Paradigmenwechsel, wie generelles Tempo 30 innerorts. Oder integrale Ansätze in der Stadtplanung, in der Raumplanung, bei der Mobilität – wie es nicht nur in Amsterdam der Fall ist.

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