Bernhard Ensink im Interview
Bereits 650.000 Arbeitsplätze durch das Fahrrad in der EU
Bernhard Ensink, European Cyclists´ Federation ECF, erklärt, wie die EU das Fahrrad verkehrspolitisch ernst zu nehmen beginnt und warum Radfahren Schlüssel zur ganzheitlichen Stadtentwicklung ist. Wie die Innovationskraft der Fahrradindustrie das Fahrrad zum Massenverkehrsmittel macht, warum Elektro-Auto-Prämien für das Versagen der Autoindustrie stehen und jährlich 1,3 Millionen Verkehrstote weltweit moralisch unvertretbar sind. Und für ihn ist klar: Die Verkehrsinfrastruktur der Zukunft wird neue Wege gehen.
VCÖ-Magazin: Sie sind seit 10 Jahren Geschäftsführer der European Cyclists` Federation ECF. Wie hat sich in dieser Zeit in Europa und in der EU das Radfahren verbessert?
Bernhard Ensink: In der EU und weltweit wird Radfahren, als Teil der Lösung der Probleme in den Städten immer ernster genommen, das zeigen etwa immer mehr und größere Fahrradverleihsysteme in den Städten und Verbesserungen der Infrastruktur. Wir erleben ein boomendes Business bei den Pedelecs, den elektrisch unterstützten Fahrräder. Und im Fahrradtourismus haben wir zweistellige Wachstumszahlen. Nur bei den nationalen Behörden könnte es noch besser werden.
VCÖ-Magazin: Radfahren wird weltweit als Beitrag zur Lösung der Probleme der Städte gefördert. Wie trägt ECF in Brüssel, wie die EU dazu bei?
Bernhard Ensink: Während der EU-Präsidentschaft von Luxemburg, im zweiten Halbjahr 2015 war Fahrradfahren das große Thema für die Verkehrsminister - ECF war daran nicht unbeteiligt. Es wurde beim informellen Verkehrsministerrat in Luxemburg eine Deklaration angenommen, in der die Minister vor allem drei Dinge fordern: Es soll in allen Mitgliedstaaten eine nationale Stelle geben, wo alles zum Fahrradfahren auf nationaler Ebene koordiniert wird. Auch in der EU-Kommission soll es einen sogenannten Focal Point Radfahren geben – die Einsetzung eines EU-Fahrrad-Koordinator war da ein erster wichtiger Schritt zur Umsetzung. Und es soll ein strategisches EU-Dokument für das Radfahren enstehen. Ein gutes vergleichbares Beispiel war für uns übrigens ein Prozess, der im Jahr 2014 in Paris mit dem Transport, Health, Environment Pan-European Programme (THE PEP) und dem Ziel eines Paneuropean Masterplan for Cycling begann. Dort trafen sich etwa fünfzig Ministerien aus Verkehr, Gesundheit und Umwelt. Das hat wesentlich dazu beigetragen, Radfahren nicht länger bloß als Mobilitätsthema zu sehen, sondern auch als Mittel, um im Gesundheits- und Umweltbereich Fortschritte zu erzielen. Österreich hat übrigens eine wichtige Rolle gespielt, dass das zustande kam.
VCÖ-Magazin: Es ist auch für ECF ein zentrales Anliegen, das Potenzial des Radfahrens für andere wichtige Politikthemen wie Klimaschutz, Gesundheit und Wirtschaft bewusst zu machen.
Bernhard Ensink: Das stimmt. So könnten beispielsweise bis zum Jahr 2050 elf Prozent der Treibhausgase im Verkehrsbereich eingespart werden, wenn in allen Ländern umgesetzt würde, was es bereits an best practice im jeweiligen Land im Fahrradbereich gibt. Lastenräder könnten mehr als 50 Prozent der Lieferfahrten in den Städten übernehmen. Viel motorisierter Verkehr könnte durch Fahrradfahren und elektrisch unterstützte Fahrräder abgewickelt und teure Autoinfrastruktur und importierte fossile Energie eingespart werden. Auch zum Erreichen der Entwicklungsziele, die die Vereinten Nationen im September letzten Jahres beschlossen haben, kann das Fahrradfahren viel beitragen. Dazu kommen große Vorteile für die Lebensqualität in den Städten und für die Gesundheit durch mehr aktive Mobilität.
Angesichts der Wirtschaftskrise sind Arbeitsplätze ein zentrales Thema. Wir haben daher den wirtschaftlichen Impact guter Fahrradpolitik in einer Studie untersucht. Tatsache ist auch, dass die Investition von beispielsweise einer Million Euro in den Fahrradsektor mehr Arbeitsplätze schafft als etwa in der Autoindustrie. In den EU-Mitgliedsstaaten hängen bereits 650.000 Arbeitsplätze direkt und indirekt mit Fahrradproduktion, Fahrradservice und Fahrradtourismus zusammen. Wenn wir unser Ziel erreichen, den Anteil des Radverkehrs zu verdoppeln, dann stiege die Zahl der Arbeitsplätze in diesem Sektor auf über eine Million. Dazu kommt, dass auch die individuellen Haushalte dadurch viel Geld einsparen können, etwa durch den Wegfall der Unterhaltung teurer Autos, des Kaufs von Benzin etc. Und es kommt auch noch der Gesundheitsfaktor hinzu, der auch für arbeitgebende Unternehmen sehr wichtig ist - wer sich täglich ausreichend körperlich betätigt, etwa indem er oder sie mit dem Rad zur Arbeit fährt, ist, wie viele Studien belegen, am Arbeitsplatz gesunder und fitter.
Wenn jetzt Deutschland die Anschaffung von Elektro-Autos subventioniert, also Elektro-Mobilität autozentriert fördern will, während die Fahrradindustrie elektrisch unterstützte Fahrräder ohne jegliche Subvention bereits erfolgreich auf dem Markt etabliert hat, dann läuft dort etwas gründlich schief.
VCÖ-Magazin: Es kommt häufig das Argument, nicht jeder, etwa ältere Leute, könne Rad fahren?
Bernhard Ensink: Wir vertreten grundsätzlich einen ganzheitlichen Ansatz der Stadtentwicklung. Da geht es um kürzere Wege, um eine Stadtplanung, die Zufußgehen und Radfahren eventuell elektrisch unterstützt zu einer logischen und präferierten Wahlmöglichkeit der Menschen macht. Natürlich in Verbindung mit dem Öffentlichen Verkehr. Wird das Angebot geschaffen, dass das Radfahren angenehm und schnell ist, Spaß macht etc., dann werden auch viele Leute Rad fahren.
Die gesamte Bandbreite an Produkten, die heute die Fahrradindustrie anbietet, erleichtert das Radfahren, für Kinder, für Erwachsende, für behinderte Menschen, die hauptsächlich mit Armkraft Rad fahren elektrisch unterstützte Fahrräder, auch in hügeligen Regionen und bei Gegenwind das Radfahren einfacher machen. Und das kann auch gut in Fahrradverleihsystemen integriert werden.
Wenn dann noch von den Städten her die richtige, gute Infrastruktur angeboten wird, dann kann Radfahren wirklich Mainstream in der Stadtmobilität werden. Weltweit suchen die Stadtbehörden Lösungen, um die in den Stoßzeiten überfüllten öffentlichen Nahverkehrssysteme zu entlasten - Radfahren kann auch da kostengünstig viel abfedern.
VCÖ-Magazin: Die EU investiert viel Geld in Infrastruktur. Wie weit fließt da auch Geld in Fahrradinfrastruktur?
Bernhard Ensink: Es gibt in verschiedenen EU-Fonds die Möglichkeit, auch für Fahrradinfrastruktur und Fahrradprojekte Förderungen zu bekommen. Es kommt darauf an, dass die einzelnen Staaten entsprechende Anträge stellen. Wenn Staaten in ihrer Strategie, auf der ihre Anträge an die EU basieren, nicht verankert haben, dass sie in Fahrradfahren investieren wollen, dann haben sie natürlich auch weniger Chancen, da erfolgreich EU-Gelder abzufragen. Innerhalb der Europäischen Kommission haben wir noch einen Kampf zu führen, dass die Beamten der Europäischen Kommission auch aktiv die einzelnen Regionen dazu bewegen, in ihre Anträge zu Infrastruktur und Förderung von guten Verkehrs- und Mobilitätslösungen viel Fahrradpolitik einzubauen.
VCÖ-Magazin: Die ECF fordert in den Städten Tempo 30 statt Tempo 50 als Standard einzuführen. Wie ist da der Stand der Dinge?
Bernhard Ensink: Jährlich mehr als 1,3 Millionen Verkehrstote weltweit sind ein moralisches Unding - Politik und Autoindustrie müssen da endlich Verantwortung zeigen. In Kombination mit der automatischen Geschwindigkeitsregulierung in den Autos, wäre auch die technisch unterstützte Einhaltung kein Problem. Noch dazu in Zeiten, wo die Autoindustrie bereits selbstfahrende Autos als unmittelbar verwirklichbar bezeichnet.
VCÖ-Magazin: Sie sind sehr viel international unterwegs. Gibt es aktuelle Entwicklungen, die für Sie besonders spannend sind?
Bernhard Ensink: Das sind einerseits die sogenannten Schnellradwege. Wie werden sich diese weiterentwickeln, wie weit kann der Vorrang für Radfahrende auch in der Stadt durchgezogen werden, das ist eine sehr spannende Entwicklung, weil sich zeigt, dass noch viel mehr möglich ist, als wir bisher an Qualität der Infrastruktur gewohnt waren.
Die zweite spannende Diskussion ist, wie sich die Grenzen zwischen herkömmlichen Fahrrädern, elektrisch unterstützten, die noch aktive Mobilität erfordern und elektrischen Zweirädern, wo nicht mehr in die Pedale getreten wird, entwickeln. Die Industrie etwa ist erfolgreich dabei, das sogenannte Speed-Pedelec auf den Markt zu bringen – das beim Treten wesentlich stärker unterstützt und Geschwindigkeiten bis zu 45 km/h ermöglicht. Das wirft Fragen auf, etwa welche gesetzlichen Regelungen es da geben soll, wo dürfen sie gefahren werden. Mit diesen Entwicklungen hängt übrigens sehr direkt zusammenhängt, mit welcher Infrastruktur wir für die Zukunft planen. Dass das Infrastruktur sein wird, die weniger für den schwer motorisierten Verkehr, wie Autos und Motorräder ausgelegt ist als für Fahrräder und leicht elektrisch betriebene Fahrzeuge, ist für mich ganz klar.
Bernhard Ensink:
59, war CEO des Niederländischen Fietsersbond, ist seit dem Jahr 2006 Secretary General der European Cyclists` Federation ECF und einer der erfahrensten Fahrrad-Fachleute weltweit. Das Gespräch führten wir via Skype, da Ensink gerade auf Einladung der China Cycle Show in Shanghai weilte.
Der Dachverband European Cyclists´ Federation ECF mit Sitz in Brüssel ist Sprachrohr von über 80 Fahrradorganisationen aus über 40 Staaten auf internationaler Ebene. Ziel ist, durch Einflussnahme auf die Politik zugunsten des Radfahrens mehr Menschen öfter zum Radfahren zu bringen.